Best of Serien 2022

Unser Rückblick auf ein Jahr der Serienschwemme

The White Lotus mit Meghann Fahy, Theo James, Aubrey Plaza, Will Sharpe
The White Lotus S2, 2022, Mike White

Wir sind in ein neues Zeitalter des Fernsehens eingetreten, das als jenes der Serienüberschwemmung beschrieben werden kann. Umso wichtiger erscheint Einordnung, Sortierung und Empfehlung. Das favorisierte Dutzend von Marietta Steinhart und Roman Scheiber.

Best of Serien: Angesichts der gigantischen Menge an Fernsehserien, die in diesem nach Eskapismus schreienden Jahr erschienen sind, sind wir in uns gegangen und haben die Perlen des Jahres herausgefiltert. Diese Serien entführten uns in sterile Büros und protzige Hotels, in gesetzlose Küchen, überforderte Spitäler, alternative Existenzen und surreale Traumwelten.

 

Severance

Dan Ericksons retro-futuristischer Unternehmensthriller unter der Regie von Ben Stiller hat die Idee der Work-Life-Balance großartig ad absurdum geführt. Franz Kafka und Aldous Huxley selbst hätten Mühe gehabt, ein vergleichbar quasi-totalitäres Szenario heraufzubeschwören, das so finster an spätkapitalistische Ausbeutung erinnert. Adam Scotts Angestellter darf/muss jeden Tag die Trauer um seine verstorbene Frau vergessen, um maximale Produktivität für ein dubioses Unternehmen zu erreichen. Severance ist gerade in einer Zeit des „Content Dump“ eine fantastische Errungenschaft; eine zweite Saison ist in Arbeit. (Apple TV+)

 

Ozark, Finale

Es ist die Serie zur Dauerkrise, denn in ihr herrscht Dauerkrise. Wenn es mit der Weltwirtschaft und der globalen Verschuldung so weiter geht, wird Ozark ev. bald die Trademark-Serie für bankrotte Banker:innen und Manager, die nach alternativen (und schwer kriminellen) Alternativen suchen, ihr Fortkommen zu bestreiten und ihre Familien zu ernähren. Hier werden sie fündig, jedoch Spoiler: Bei der Anwendung der in dieser Serie vorgestellten Methoden braucht es sowohl einen starken Magen als auch ein gerüttelt Maß an Improvisationskünsten. Wir vom filmfilter empfanden das Ende jedenfalls, entgegen so manchen Fan-Kommentaren, als tief erfüllend. (Netflix)

The White Lotus, S2

Die exquisiten Kulissen dieser Serie mögen wie traumhafte Fluchtorte aussehen, aber in den Händen des Autors und Regisseurs Mike White versinken sie in einem einprozentigen Albtraum. Nachdem die erste Saison dieser Satire alle umgehauen hat – den filmfilter inklusive –, verpflanzte White das zweite Kapitel nach Sizilien und kreierte die vielleicht „geilste“ Serie des Jahres. The White Lotus ist ein äußerst zynischer und zutiefst brillanter Blick auf unsere Sexualpolitik (inmitten geradezu „kolonialer“ Strukturen) mit großartigen Darbietungen u.a. von Jennifer Coolidge, Aubrey Plaza und Sabrina Impacciatore. (Sky)

The Bear

Wer hätte gedacht, dass eine der stressigsten Serien aller Zeiten zu einer der besten des Jahres werden würde? Sie werden The Bear auf vielen Best-of-Listen finden, nicht selten auf Platz eins – und das zurecht. Christopher Storers kinetisches, kulinarisches Drama schwelgt im Adrenalin, das durch einen Sandwich-Laden in Chicago pulsiert, durch Jeremy Allen Whites Wunderkoch Carmy, um genau zu sein. Die Serie ist schnell, sie ist laut, meisterhaft gedreht und beeindruckend gespielt und macht sehr, sehr hungrig. (Disney+)

 

Landscapers

Es war zweifellos das Jahr der wahren Verbrechen, von The Staircase (Sky) über Candy (Disney+) bis hin zu A Friend of the Family (Disney+), aber der HBO-Vierteiler Landscapers ist eines der ungewöhnlichsten True-Crime-Stücke, die wir je gesehen haben. Es könnte die größte Liebesgeschichte nach Bonnie und Clyde sein – aber mit der britischen Höflichkeit von Olivia Colman und David Thewlis. Die Miniserie wurde von Ed Sinclair, Colmans Ehemann, geschrieben und von dem brillanten britischen Regisseur Will Sharpe expressionistisch inszeniert. (Sky)

 

Five Days at Memorial

Auch diese ungeheuer nah an der Realität gebaute Serie darf in unserem heurigen Best of Serien nicht fehlen. Die Ausnahmeschauspielerin Vera Farmiga überzeugt als Ärztin, die als Diensthabende im Memorial Hospital von New Orleans während der durch Hurrikan Katrina ausgelösten Flutkatastrophe Verantwortung trägt – mehrschichtig, die Perspektive wechselnd, fragt die von Carlton Cuse und John Ridley konzipierte Miniserie die Zuschauerin, was sie an Stelle von Dr. Anna Pou getan hätte. (Apple TV+)

Pachinko

In diesem Jahr entwickelte Apple TV+ sich zu einem ernst zu nehmenden Streamer. Die Freuden und Tiefen von Pachinko, wunderschön adaptiert von Soo Hugh und unter der Regie von Kogonada und Justin Chon, waren so greifbar, dass man am Ende der achten Folge dieser üppigen Miniserie das Gefühl hatte, die leichte Säure des Kimchis schmecken zu können. Die Literaturadaption von Min Jin Lees Roman ist ein bittersüßes Epos, das sich mit der generationsübergreifenden Geschichte einer koreanischen Familie beschäftigt. Ein wahrhaftiges Kunstwerk. (Apple TV+)

 

Stranger Things, S4

Die Hit-Serie der Gebrüder Duffer hat es in diesem Jahr geschafft, sich in etwas noch Größeres und irgendwie noch Erstaunlicheres als in den vorherigen Staffeln zu verwandeln. Es war beseelte Kleinbild-Action vom Feinsten. Kate Bush kletterte wieder an die Spitze der Charts und wir bekamen Antworten auf lang ersehnte Fragen. Ein weiterer Grund für die Aufnahme ins Best of Serien: Der Erfolg von Stranger Things rettete Netflix im Mai und im Juli wahrscheinlich vor dem Totalausfall angesichts großer finanzieller Probleme. Dennoch kursieren Gerüchte, der Streamer könne nächstes Jahr von Microsoft übernommen werden. Daher hier schnell der Trailer zur nächsten Season (Netflix):

 

Babylon Berlin, S4

Auch wenn sie ihre goldenen Tage in jeder Hinsicht hinter sich hat und das neue Kapitel bedrückender war denn je, die opulente deutsche Krimi-Serie des Trios Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloegten verdient immer noch einen Platz auf unserer Liste. In der vierten Staffel wird der Berliner Hedonismus in den 1930ern vom Faschismus verschluckt. Ein komplexes Zeitporträt und wieder eines der beeindruckendsten Produktionsdesigns diesseits des Atlantiks. (Sky, ab 2023 im Ersten)

Chloe

In der Streaming-Welt brachte der Frühling ein Meer an Geschichten, die von Schwindler:innen handeln (The Dropout, Inventing Anna usw.), aber der Autorin und Regisseurin Alice Seabright ist mit Chloe etwas ganz besonders Cleveres gelungen – daher steht diese Produktion in unserem Best of Serien stellvertretend für alle anderen. Der BBC-Sechsteiler mit Erin Doherty in der Hauptrolle spielt sich ab wie ein Hitchcock-Thriller für das Instagram-Zeitalter, der den ganzen Sadomasochismus einfängt, der mit Social Media generell einhergeht. (Prime Video)

Borgen – Power & Glory

Heuer wurden Österreichs Fernsehmacher wieder einmal daran erinnert, welche Stoffe man sich abseits der hiesigen Entertainment-Kost ausdenken könnte (z.B. im Auftrag von Netflix, wie der Nachschlag zur dänischen Vorzeigeserie schlechthin). Denn Dänemarks Kreativindustrie ist von den Möglichkeiten Österreichs nicht so weit entfernt, dass ein großer Wurf wie die Politik-Medien-Gesellschaftsserie Borgen nicht auch einmal hierzulande gelingen könnte. Das könnte dann Streaming-Jünger, die sich längst zur Gänze anderswo bedienen, auch wieder einmal auf den ORF aufmerksam machen. (Netflix)

Better Call Saul, Finale

Sich durchdacht und zugleich vergnüglich mit den Verformungen zu beschäftigen, die das Streben nach Geldvermehrung in einer Gesellschaft verursacht, diese systematischen Verformungen mit den unentrinnbaren Herkunftsvoraussetzungen und Charakterschwächen der porträtierten Individuen zu verquicken, und das auf so originelle, bildhafte und dialogwitzige Weise wie Better Call Saul, ist wahrlich eine Kunst. Wir werden Saul und Kim vermissen, so wie wir Sauls Stammserie Breaking Bad vermisst haben, und doch wissen wir: Nun muss es zu Ende sein. (Netflix)

 

Nur knapp unser bestes Dutzend verpasst haben: The Watcher (Netflix, Tipp hier), Slow Horses (Apple TV+), Andor (Disney+), All of Us Are Dead (Netflix), Bad Sisters (Apple TV+, Tipp hier), Peripheral (Prime Video), Archive 81 (Netflix), The English (in DE auf Magenta TV) und einige mehr. Wie gesagt: Serienschwemme.

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