Oberhausen 2024: Die 70. Internationalen Kurzfilmtage richteten heuer den Blick auf ihre eigene Geschichte. Material und Medium, aber auch Wahrnehmungen und Repräsentationen standen im Fokus – sowohl in der Sektion Thema, als auch in mehreren österreichischen Filmbeiträgen.
Manchmal ist die Realität der Welt, in der wir leben, so schockierend, dass das filmische Verhandeln der Wirklichkeit im Jetzt nicht möglich ist und erst später retrospektiv filmisch analysiert werden kann. Das Kino kann in solchen Fällen in die Zukunft und ins möglicherweise Irreale gehen – Science Fiction und Superheld:innen filmisch verhandeln. Es kann aber auch in die Vergangenheit blicken, um Geschichte aufzuarbeiten und Film auch als historische Quelle zu nutzen und zu diskutieren.
Die Oberhausener Kurzfilmtage 2024 hatten spürbar weniger Publikum als im vergangenen Jahr (hauptsächlich ein Resultat der Solidaritätsbekundung mit Israel durch Festivalleiter Lars Henrik Gass und dem daraus resultierenden Boykottaufruf gegen das Festival) und setzten ihren thematischen Fokus auf ihr eigenes Archiv. Sie verhandelten inhaltlich und auf das filmische Medium bezogen ihre eigene Historie und Materialgeschichte allgemein: Mehrere Programmpunkte, wie das diesjährige Thema der Kurzfilmtage „Sport im Film“, das Programm „Re-Selected“ – die letzte Ausgabe dieser von Tobias Hering programmierten Sektion auf den Kurzfilmtagen –, Profile wie Abraham Ravett oder „Übersehene Filme“ und sogar das Verleihprogramm des österreichischen „sixpackfilm“ setzten komplett, teilweise oder zumindest in Anlehnung auf bzw. an das Analoge.
„Sport im Film“ ist eine Entdeckungsreise der Sportfilmtage Oberhausen, die zwischen 1968 und 1977 während der Hochzeit des Kalten Krieges alle zwei Jahre stattfanden. Fünf Programme beschäftigten sich u.a. mit stereotypisierten (Körper-)Bildern von Frauen und Männern im Sport-Film, mit verschiedenen Disziplinen oder Sport als sozialem Faktor. Sichtbar wird hier, wie Sport vom Publikum wahrgenommen wird; wie er im Kino und vor allem im Fernsehen immer von Medien gestaltet und instrumentalisiert und damit mitbestimmt wurde, wie wir Medienkonsumentinnen die Athleten und den Sport an sich, aber auch die Randständigen wie Stadionbesucherinnen oder Fans wahrnehmen.
Die Aufforderung, den Blick zu schärfen, war bereits dem Festival-Trailer inhärent: Er beginnt mit mahnenden Worten für Filmvorführer („Please focus the projector“) und lenkt damit den Blick auf das analoge Medium und eine fast archaisch anmutende Vorführtechnik, die auf den meisten Festivals nicht mehr zur Hauptaufgabe der Vorführerinnen, noch zu den Seh- und Erfahrungsgewohnheiten des Publikums gehört. In diesem Jahr gab es in Oberhausen viele wunderschöne, verschrammte und zum Teil rotstichige 16mm- und 35mm-Kopien zu sehen: Die Kopie als Original wurde gefeiert.
Auch die österreichischen Beiträge in der Sektion „Distributors“ (sixpackfilm) und im „Internationalen Wettbewerb“ von Oberhausen beschäftigten sich u.a. mit analogem Material wie Fotos, Super-8-Aufnahmen und sogar Kunstdrucken. Zum Teil wurde analog gedreht, zum Teil wurde auch das analoge Drehen oder Projizieren selbst (digital) aufgenommen. Avec la 4e Division Marocaine de Montagne (Ö, 2024) von Stefania Smolkina setzte Fotos und Drucke in Szene und kombinierte sie eindrücklich mit zum Teil originalen Interviewtönen. abstechen (Ö, 2023) von Angelika Reitzner erschuf mit körnigen Super8-Aufnahmen eine Kombination aus Familiengeschichte und eine filmische Kritik über nachhaltiges Schlachten. Drei Filme über, von oder mit Friedl vom Gröller sind Künstlerinnenporträts, die die Künstlerin, aber auch das Medium und die Technik inszenieren: Friedl (Ö, 2023) von Christiana Perschon, Ich will nicht gefilmt werden, sondern selber filmen (Ö, 2023) und Palmer (Ö, 2023), beide von Friedl vom Gröller. Auch hier ist – vielleicht subtiler und leiser – Künstlerin und porträtierter Mensch Idol und Heldin.
Im von Dietrich Leder kuratierten Thema wurden in erster Linie Lehrfilme, Sportberichterstattung, Trainings-Filme und dokumentarische Filme über eben solche Idole und Helden gezeigt. Einige der schönsten Sportlerinnenporträts, weil persönlich und einfühlsam inszeniert, waren: Autobus Z Napisem ‚Koniec‘ von Mariusz Walter (PL, 1971), Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner (BRD, 1974) von Werner Herzog oder The Flashettes (USA, 1977) von Bonnie L. Friedman. Hier wurden auch Antihelden heroisiert und sympathisch porträtiert. Antiheldin meint hier: Es sind nicht unbedingt die sportlichen Gewinnertypen im Fokus, sondern Sportlerinnen, die ihre Disziplin wegen dieser selbst ausüben, nicht der Preise oder Werbeverträge wegen, oder denen es zuvörderst um den Teamgeist geht. So war es fast nicht verwunderlich, dass das Publikum im Kino wie bei einer Liveübertragung noch vor Ende des Films von Mariusz Walter klatschte: Weil nämlich der dänische Radfahrer auf der Friedensfahrt, der praktisch die gesamte Filmlänge über direkt vor dem Besenwagen am Schluss der Gruppe gefahren war, endlich das Stadion und damit das Ziel erreicht hat. Die Dynamik des Mitfieberns hatte sich auf den ganzen Kinosaal übertragen. So aber auch die Angst um den Schweizer Walter Steiner, dessen Skiflüge so weit waren, dass die Gefahr einer großen Verletzung und die wunderschön komponierten Zeitlupenaufnahmen Werner Herzogs für ständige Anspannung im Kino sorgten.
Was bleibt am Ende? Im Postheroismus gehen uns Helden verloren, so der Politologe Herfried Münkler. Der Sport sei eine der letzten Instanzen, in der Helden produziert würden. Der Film und das Kino, das hat die Filmauswahl von Oberhausen gezeigt, aber eben auch in großem Maß. Seien es subtile Systemkritiken ungarischer Filmschaffender oder Porträts kleiner und großer Heldinnen im Sport, der wie ein Kinoerlebnis Menschen in Massen gemeinsam fokussieren lassen kann. Positiv konnotierte und klar zuordenbare Helden sind momentan vielleicht wichtiger denn je. Allerdings müssen auch hier die Narrative, die dazu formuliert werden, jeweils immer kritisch hinterfragt werden. Wer inszeniert was und für wen, wann und in welcher Form und Absicht, sind Fragen, die unsere Kritik der bewegten Bilder stets begleiten sollte. In dieser Hinsicht war der retrospektive Blick ins Archiv eine wichtige Erinnerung an diese Aspekte.