Sanierungsfall

Streaming-Tipp KW 42: „The Watcher“

murphy, the watcher
The Watcher, 2022, Ryan Murphy, Ian Brennan © Eric Liebowitz/Netflix

„The Watcher“ (Netflix): Das bislang unterbewertete Familiendrama von Ryan Murphy und Ian Brennan ist ein toll besetztes, amüsant verrücktes Krimirätsel um ein schönes altehrwürdiges Haus – und kommt sogar ohne Leichen im Keller aus.

Wer sich für architektonisch außergewöhnliche, alte Villen interessiert, wird sich auch für den Siebenteiler The Watcher interessieren. Sagt nicht Amazon, sagt der filmfilter. Es geht nämlich um ein wirklich sehr schönes altes Haus in The Watcher, in das man sich regelrecht verlieben kann. Der Titelheld ist so ein Verliebter und hat angeblich seit seiner Kindheit eine Obsession mit jener Villa, in die die Brannocks gerade einziehen. Also schreibt er Briefe an die neuen Eigentümer, die eigentlich Liebesbriefe an das Haus sind.

Wir schreiben das Jahr 2014, Dean Brannock (Bobby Cannavale) hat alle Finanzreserven zusammengekratzt, um für seine Frau Nora (Naomi Watts) und seine zwei Kinder das Haus 657 Boulevard in Westfield, New Jersey zu kaufen. Im Grunde ging es dabei um ein persönliches Gefühl der Sicherheit, weil auf den Straßen von New York City war Dean dieses Gefühl allmählich abhanden gekommen. Doch bald landet der erste (Droh-)Brief in seinem Postkastl, und die allseitige Anfangseuphorie nach dem Einzug, die nicht einmal durch die eher abweisenden neuen Nachbarn zu dämpfen war, verfliegt wie die Blätter der hundertjährigen Eiche im großzügig bemessenen Vorgarten im Herbst. Alltägliche Ängste ziehen also auch in das neue Anwesen der Brannocks mit ein, nur diesmal extremisieren sie sich zu Alpträumen.

Murphy, The Watcher
Bobby Cannavale in The Watcher

The Watcher basiert lose auf einem „Longread“ im New York Magazine, der wiederum auf wahren Begebenheiten beruht. Diese Geschichte war Ryan Murphy und Ian Brennan in die Hände gefallen, die auch als Stoffentwickler für den anderen populären True-Crime-Thriller auf Netflix dieser Tage verantwortlich zeichnen, nämlich Dahmer – Monster: The Jeffrey Dahmer Story. Über die Grauslichkeiten und Psychologisierungstendenzen dieser beim US-Publikum sogar noch beliebteren Exploitation-Serie über den bekannten Titel-Serienmörder breiten wir hier den Mantel des Schweigens (und verweisen auf die Schwester eines Opfers).

Zurück also zu The Watcher. Das Traumhaus zeigt bald – narrativ wonnig auskonturierte – Schattenseiten: Die zickige Vorsitzende des lokalen Denkmalvereins (Mia Farrow) setzt Dean gleich beim Kennenlernen darüber in Kenntnis, dass dieser keineswegs Änderungen am innenarchitektonisch unbedingt schützenswerten „Dumb Waiter“, also am Essensaufzug vornehmen darf – in seinem eigenen Haus wohlgemerkt. Die verhaltensoriginellen Nachbarn Mitch und Mo (Richard King, Margo Martindale) gehen Dean zunächst ordentlich auf die Nerven und verschwinden dann spektakulär. Aber richtig gruselig wird es, als ein angeblicher Küchenumbauinspektor (Dean will nämlich u.a. eine Pasta-verfärbungsresistente Arbeitsplatte in seiner Küche) dem ohnehin besorgten Vater eine Lektion darüber hält, wie er mit seiner pubertierenden Tochter umzugehen habe. Diese wiederum wirft ein Auge auf den jungen Sicherheitsmann, den Dean mit der Installation von Überwachungskameras beauftragt hat.

Es findet sich der nächste Brief, welcher gewissermaßen noch ein Drohschäuferl drauflegt, und es kommt, wie es kommen muss: Eskalation. Streit mit der Tochter, Streit mit den Nachbarn, Streit mit Gattin Nora, vorübergehender Umzug ins Motel. Ein mysteriöses Video kommt ins Spiel, das Dean nicht gut aussehen lässt und zur Verminderung seiner Streitlust gänzlich ungeeignet ist. Sämtliche Nachbarn, der Security Youngster, schließlich auch der örtliche Polizeichef und vor allem die Immobilienmaklerin (Jennifer Coolidge), mit der Nora sich angefreundet hat, zählen zu den Verdächtigen und müssen alsbald von jener Person durchleuchtet werden, die The Watcher letztlich den Stempel aufdrückt – Theodora Birch (grandios gespielt von Noma Dumezweni), vormalige Jazzsängerin und nunmehrige Privatdetektivin. Sie soll den fiesen Briefschreiber für Dean dingfest machen, wo doch die Polizei versagt.

Fast durchweg herausragendes Schauspielpersonal verleiht dem Ermittlungs-Parcours durch die in Frage kommenden Kreise Gravitas, wobei der Begriff „falsche Fährte“ für Freund:innen konventioneller Krimis hier mit Sicherheit überstrapaziert wird. In serpentinenartigen Schleifen schleppen Dean, Nora und Theodora sich voran und müssen doch immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Kein Spoiler: Es geht mehr um die Dynamiken innerhalb dieser Familie und um die Dysfunktionen der ach so idyllischen Community im wohlhabenden Westfield als um den Täter bzw. die Täterin. Spoiler allerdings in folgendem Link: Den Showdown könnte man „fantastisch frustierend“ nennen, meinte eine US-Kollegin und erklärt das Ende. Indes kann man das Ende auch einfach sehr gut nennen.