Baby Reindeer

Ein True-Crime-Hype mit Fug und Recht – auf Netflix

Gadd, Baby Reindeer
Baby Reindeer, 2024, Richard Gadd

„Baby Reindeer“: warum die umstrittene autofiktionale Miniserie rund um Selbstwert, Gewalt und Comedy beim Publikum so gut funktioniert. Eine Analyse.

Viel ist schon geschrieben worden über Baby Reindeer, eine der erfolgreichsten Netflix-Produktionen seit Jahren. Ein Hype mit Fug und Recht. Autor und Hauptdarsteller Richard Gadd hat basierend auf seinem eigenen gleichnamigen Theaterstück eine siebenteilige Serie konzipiert, und ihm ist etwas Unwahrscheinliches gelungen: Baby Reindeer gelingt die filmische Rekonstruktion von Übergriff und Missbrauch, die selbst nichts Übergriffiges oder tumb Transgressives hat, sondern tatsächlich so etwas wie eine Selbstanalyse mit filmischen Mitteln darstellt. Richard Gadd spielt die eigene Vergewaltigung vor der Kamera nach, und das ist nicht der einzige Punkt, an dem die Grenze des im Rahmen des geläufigen Serienwesens Konsumierbaren mindestens mal touchiert wird.

Keine dieser Grenzberührungen hat hier etwas Instrumentelles, etwa um den Eindruck der Krassheit des Ganzen zu steigern. Vielmehr soll mit ihnen etwas zur Anschauung gebracht werden, das anders nicht zu zeigen wäre: Baby Reindeer ist eine vielschichtig aufgebaute Erzählung, es geht um Selbstwert, Sexualität, Näheverhältnisse, Gewalt, Queerness und Comedy; also eigentlich um alles, aufgefädelt an einer Geschichte um einen Stalking- und um einen Missbrauchsfall.

Richard Gadd spielt eine fiktionalisierte Version seiner selbst, Donny Dunn. Donny ist ein erfolgloser Comedian, wohnt bei der Mutter seiner Ex-Freundin und hat sein Leben bis auf Weiteres konsequent an die Wand gefahren. Sein Geld verdient er hinter dem Tresen eines Londoner Pubs. Dort rauscht eines Nachmittags Martha (Jessica Gunning) durch die Tür, weinend. Donny hat Mitleid und gibt ihr einen aus. Zwei Menschen, denen es nicht gutgeht, scheinen einander auf den ersten Blick gut zu verstehen. Sie verliebt sich und kippt prompt ins Manische, er ist auf eine von ihm nicht genau zu definierende Weise fasziniert, in einer Mischung aus Empathie und Mitleid.

Martha lässt von da an nicht mehr ab und beginnt, Donny auf allen Kanälen mit Nachrichten zu bombardieren. Ein Schreiben ins Leere – er antwortet Martha nicht. Netflix hat kürzlich die Zahlen des realen Falls veröffentlicht: 41.071 E-Mails, 46 Facebook-Messages, insgesamt 106 Seiten an Briefen, 350 Stunden Voicemail-Nachrichten und 744 Nachrichten per Twitter. Ins Leere, aber doch mit maximalem Effekt: Es ist ein über Jahre währender Alptraum.

Gadd, Gunning, Baby Reindeer
Richard Gadd, Jessica Gunning

Eben dem wird nach einem Drittel Serienlaufzeit eine weitere Gewaltebene hinzugefügt. Donny trifft einen Produzenten, Darrien (Tom Goodman-Hill), der ihn in eine erfolgsversprechende Arbeitsbeziehung plus Drogenexzess hineinmanipuliert. Darrien vergewaltigt Donny, nachdem der im Rausch weggedämmert ist, mehrmals, an mehreren Abenden.

Damit sind wir auch am eigentlichen Punkt, an dem Baby Reindeer schwer aushaltbar wird: zu sehen, wie jemand den Übergriff hinnimmt, und den Kontakt nicht abbricht, obwohl er ihn krankmacht. Donny geht immer wieder in Darriens Wohnung. Die Versuche wiederum, seine Stalkerin abzuwehren, fallen halbherzig aus. Als Donny Martha dann doch noch, viel zu spät, bei der Polizei anzeigt, macht er das auf eine Weise, die sie eher schützt, als dass er ihren Grenzübertretungen ein Ende setzen würde. Martha hatte am Vorabend Donnys Freundin angegriffen und geschlagen, Donny erwähnt den Angriff der Polizei gegenüber nicht.

In beiden Fällen gilt: Donny kämpft lange nicht oder nur sehr verhalten, sondern nimmt es hin und verbleibt eingespannt in dem Gewaltzusammenhang, in den er hineingeraten ist. Er wehrt sich nicht so, wie man das von einer Hauptfigur eines Films, die auch nicht einfach ein Opfer ist, eigentlich erwarten würde. An diesem Punkt liegt dann auch, jetzt einmal betont nüchtern formuliert, das Erkenntnispotenzial von Baby Reindeer.

Auf einer narrativen Ebene, als Erzählkunst, gehört die Serie zum Besten, was aus dem ja etwas durchgenudelten Serienzirkus in den letzten Jahren hervorgegangen ist. Die Inszenierung ist relativ konventionell, aber die Wechsel in der Tonalität sind immer wieder überraschend: vom Drama ins RomCom-Register in die Comedy und zurück. Diese Wechsel halten einen konstant in schwebender Aufmerksamkeit, und diese Aufmerksamkeit bildet die Voraussetzung für alles Weitere. Das konstante Gefühl des Unerwartbaren greift sozusagen über auf die implizite Bedeutungsebene – die Genrewechsel öffnen die Wahrnehmungskanäle.

Mit Darrien halten in letztere dann unangenehme Fragen Einzug: Warum tut hier einer nicht alles, damit das aufhört? Allgemeiner formuliert: Warum sucht und hält ein Mensch weiter Kontakt zu denen, die ihn krankmachen, statt ihn zu kappen? Die Deppenantwort auf diese und ähnliche Fragen ist eine selbst schon übergriffige: Das Opfer wollte es angeblich insgeheim auch und soll sich jetzt mal lieber nicht so anstellen. Die Ahnung, dass so eine Antwort in den Kreisen, in denen Donny sich bewegt, möglicherweise common sense ist, stürzt ihn zusätzlich in Not und Selbstzweifel.

Für Martha wie Darrien, für Grooming wie für Stalking gilt: In der Manipulation des Narzissten lösen sich die Standards, was Selbstachtung und Grenzziehung angeht, auf. Donny beginnt, seine eigene Sexualität und seine Wünsche infrage zu stellen, gesteht seinen Eltern in einer sehr berührenden Coming-out-Szene, dass er bisexuell sei, und versucht das Trauma mittels Promiskuität zu bearbeiten oder zumindest zu betäuben. Das ist das Nächste, was der Übergriff hier auslöst: Donny beginnt an seinen eigenen Empfindungen, und das heißt an sich selbst, zu zweifeln.

Gadd, Mau, Baby Reindeer
Richard Gadd, Nava Mau

Die zweite Hälfte von Baby Reindeer ist der Selbstanalyse des Helden gewidmet. Sie vermeidet die allzu einfache Perspektive, also die, die das Opfer kategorisch und immer frei von Ambivalenzen sehen möchte, um sich einfacher und bruchloser imaginär mit ihm verbinden zu können. Aber auch eine, die dem Opfer irgendeine Form von Schuld zuzuschieben versucht. Nebenbei bemerkt, aber wichtig: Ausgenommen sind aus dem Bild, das Baby Reindeer zeichnet, damit alle Formen von Missbrauch und Übergriffen, die ausschließlich physischer Gewalt und unmittelbarem Zwang, Gewaltdrohung oder materieller Abhängigkeit („Wenn ich ihn anzeige, werd ich mir eine neue Wohnung suchen müssen“) verbunden sind.

Donny erkennt, was er von seinem Vergewaltiger wie auch von seiner Stalkerin bekommen hat (ohne es wirklich bekommen zu haben): ein Versprechen auf Erfolg und eine Ende des Gefühls der Wertlosigkeit in dem einen Fall, die Möglichkeit, im Blick des anderen zu glänzen, im anderen. Für jemanden, der unter quälendem Mangel an Selbstbewusstsein leidet, genügt das schon, um die Gewalt, die ihm angetan wird, vor sich selbst zu verleugnen; eine Überlebensstrategie.

Die eigentümliche Faszination, die überdurchschnittlich narzisstische Menschen ausüben können, speist sich auch in Baby Reindeer aus ihrer Fähigkeit, anderen zu suggerieren, sie könnten am narzisstischen (und am Ende dann aber gleichfalls fragilen) Größenselbst teilhaben. Und Darrien ist einer der unangenehmsten Filmnarzissten der letzten Jahre. Nicht zuletzt, weil man die Manipulation hier so gut nachvollziehen kann: das Versprechen auf ein gutes, wildes, erfolgreiches Leben, das dann aber nur eine schreiende emotionale Leere verdeckt.

Worin unterscheiden sich diese Diagnose und die Bilder, die Baby Reindeer zeichnet, vom Vorwurf der insgeheimen Komplizenschaft („Sie wollte es ja auch!“; oder, wie in diesem Fall, „Er wollte es ja auch!“)? Insgeheim gewollt werden hier eben nicht der Übergriff oder die Vergewaltigung – dass das Opfer „es“ wollen würde, ist eine der gängigsten und ekelhaftesten Erzählungen, die Täter sich und anderen einreden, damit das mit dem Blick in den Spiegel am Morgen noch funktioniert. Insgeheim gewollt wird in Baby Reindeer das, was die Beziehung einem jenseits der Gewalt schenken soll. Und die Gewalt ist entsprechend gerade das, was verleugnet werden muss, um dieses Geschenk weiterhin oder irgendwann einmal, das ist auch nicht immer klar, zu bekommen.

Im Falle des Produzenten ist es ein Fake, ein Luftschloss: Donny dient als Objekt allein dem gloriosen Sich-selbst-in-Szene-setzen seines Vergewaltigers, und dessen Versprechen sind eigentlich keine, sondern leider erfolgreiche Manipulationsversuche. Der Fachbegriff für diese Form von erst einmal ungreifbar bleibender psychischer Gewalt ist grooming – er meint nicht unbedingt nur die sogenannte Verführung von Minderjährigen, sondern kann als erweiterter Begriff auch andere asymmetrische Beziehungen umfassen.

Im Falle des Stalkings ist es komplizierter. Donny hat Mitleid mit Martha und genießt das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer, der er in zentralen Punkten dann doch ähnlich ist: Er und sie sind beide gescheitert und laufen lost durch die Welt. Marthas Bewunderung und das, was anfangs wie Verliebtheit aussieht, genießt Donny in seltsam ambivalenter Weise. Zumindest in einer Phase steigert sich seine Involvierung zu heftiger sexueller Erregung. Zugleich ist der duldsame Umgang mit dem Stalking auch eine Art trauma response: Wenn ich diese Übergriffe aushalte, können die anderen, die, die vom Körper als Tötungsversuche erlebt wurden, so schlimm nicht gewesen sein. Auch dieser Kompensationsversuch ist in Baby Reindeer vergeblich. Das einzige, was hilft, ist Aufarbeitung. In diesem Fall mit der Kamera, als Auf- und Verarbeitung in der Kunst.

Bleibt die Frage, warum gerade diese Serie derart durch die Decke gegangen ist. Abgesehen davon, dass sie very entertaining ist. Vielleicht so: Letzten Endes hat man es bei Baby Reindeer mit etwas Singulärem zu tun, nämlich mit autofiktionalem True Crime. Das vielen als geschmackloser Trash geltende True-Crime-Genre kann da, wo der Sensationalismus andere, zartere Bedeutungsebenen nicht plattwalzt, am Extrem zeigen, was die Normalität bestimmt und strukturiert. Einmal quer und kursorisch durchs Genre der vergangenen Jahre: Dahmer (der Titelheld lobotomisiert seine Opfer, damit sie bei ihm bleiben) erzählt von der Einsamkeit von Männern, die nicht in der Lage sind, Beziehungen einzugehen und zu halten. German Crime Story: Gefesselt (der Hamburger Säurefass-Mörder quält Frauen in seinem Heimwerkerkeller zu Tode) erzählt von Geschlechterverhältnissen im deutschen Kleinbürgertum der Neunzigerjahre, die bis heute fortwesen; die Paradise Lost-Trilogie (drei Jugendliche werden für einen Kindermord verurteilt, den sie nicht begangen haben können) vom vorbewussten Hass der Erwachsenen auf die Jungen; Making a Murderer vom berechtigten Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen. Und so weiter.

Baby Reindeer erzählt von einer Erfahrung, deren Anschauung auf dem Bildschirm auch ohne die Erfahrung von Vergewaltigung und körperlichem Missbrauch bedeutsam und klärend sein kann. Das Extrem ist der körperliche Missbrauch, der Normalfall aber sind toxische Verbindungen, aus denen man sich nicht lösen kann oder möchte, und die nicht mehr als Übergriffe erkannten Übergriffe jedweder Art. Normalfall heißt hier, man empfindet alles das als Normalität, und das macht die Antwort auf die Frage, warum man nicht geht, obwohl es einen krankmacht, so schwierig formulierbar. Warum gelingt es Menschen, einen immer wieder zu berühren, zu begeistern, zu kränken und zu verletzen, obwohl, aus der Außenperspektive gut erkennbar, Zeit für Arschtritt und Verabschiedung wäre?

Wenn man die Dynamik, die Baby Reindeer anhand seiner Figuren in Szene setzt, vom Extremfall ablöst und auf ein toxisches, aber eben als normal wahrgenommenes Beziehungsgeschehen und -elend überträgt, ginge es auch hier um das, was man trotz allem noch vom Anderen bekommt: Momente der Anerkennung, die nach ausdauernder Herabsetzung noch heller strahlen; eine Aufwertung, die man erlebt, weil man am Größenselbst des anderen teilhaben darf; nicht zuletzt komfortable Bequemlichkeit, die auch einfach materiell vorteilhaft oder schlicht notwendig sein kann: Es geht einem zumindest in letzterer Hinsicht nicht schlecht, auch wenn es einem schlechtgeht.

Trotzdem verschiebt Baby Reindeer nicht die Verantwortung. Die Komplexität der Geschichte intensiviert die Wahrnehmung, dass Toxisches Lebendigkeit und die seelische Gesundheit zerstört, und schwächt sie nicht ab. Die Gewalt, die sich das Opfer in der Folge selbst antut, wird durch die Gewalt des Übergriffs erst angestoßen und unausweichlich.

Das mögen in Textform alles eventuell keine großen und neuen Erkenntnisse sein. Im filmischen Verlauf aber, also in der ästhetischen Erfahrung, die man mit diesen Bildern und dieser Geschichte machen kann, kann man alles das im geschützten Raum der Filmkunst am eigenen Körper und im intuitiven Abgleich mit den eigenen Erinnerungen mimetisch nachvollziehen. Wenn der Zuschauer:innenkörper als Medium der Affektivität der Bilder involviert ist, reicht eine Geschichte von Grenzüberschreitung, Übergriff und Gewalt tiefer als ein Bericht oder ein Thesentext. Richard Gadd holt alles das aus sich heraus und vor die Kamera und erzählt von den eigenen Ambivalenzen und der eigenen Autodestruktivität, ohne den Gewaltcharakter der Tat zu vermindern. Ich kenne nur wenig Bildschirmkunst der letzten Jahre, die einen dermaßen niederdrückt und zugleich mittels diagnostischer Intelligenz, radikaler Offenheit und gut getakteter Komik wacher und wachsamer gegenüber sich selbst und anderen werden lässt.

 

Baby Reindeer
UK 2024, Creator Richard Gadd
Mit Richard Gadd, Jessica Gunning, Nava Mau, John Goodman-Hill
Laufzeit Knapp 240 Minuten, verteilt auf 7 Episoden