Jedes Ende ist auch ein Anfang

Streaming-Tipp: Der würdige Abschluss von „Better Call Saul“ – auf Netflix

BCS S6, Gilligan, Gould, Odenkirk
Better Call Saul S6, 2022, Vince Gilligan, Peter Gould

Jedes Ende ist auch ein Anfang, sagt man. Im Fall von Better Call Saul (2015–2022) trifft das zum Beispiel zu, wenn Sie diese Serie noch nicht gesehen haben. In diesem Fall gratuliere ich herzlich, denn Sie haben eine der sehenswertesten Fernseherzählungen der jüngsten Vergangenheit noch vor sich. Fangen Sie einfach damit an! Sie werden es nicht bereuen.

Sollten Sie aber auch die Mutterserie Breaking Bad (2008–2013) noch nicht kennen, eine der bahnbrechendsten TV-Produktionen ihrer Zeit, haben Sie eine beneidenswerte Alternative: Sie könnten mit Breaking Bad anfangen und danach Better Call Saul ansehen. Die beiden Erzählungen gehören bekanntlich zusammen – wenn auch nicht untrennbar –, das Spin-off Better Call Saul spielt im Erzählablauf überwiegend früher, ist also über weite Strecken ein Prequel. (Basisinformationen zu Plot und Figuren gibt es überall im Netz zuhauf, sind aber sekundär.)

Was macht diese Serien so sehenswert? Der Begriff „sehenswert“ ist nicht zufällig gewählt, denn es handelt sich um ein Musterbeispiel visuellen Erzählens. Anstatt das selbst wortreich zu argumentieren, verweise ich auf einen Videoessay des jungen Autors, Filmkritikers und Filmemachers Thomas Flight. Der veranschaulicht u.a. (mit freilich erst recht vielen Worten), mit wie wenigen Worten, nämlich mit wie wenig Dialog Better Call Saul in entscheidenden Szenen auskommt. Wohlgemerkt eine Anwaltsserie, deren Titelheld nicht nur dafür notorisch ist, sich bei Gericht die Zunge fusslig zu reden, sondern der sich aus den unmöglichsten und gefährlichsten Situationen buchstäblich herausreden kann. (Spoiler sind hier nebensächlich, denn aus dem Zusammenhang gerissen schnell wieder vergessen.) Sehenswert für Anfänger wie für Mittendrin-Seiende oder Beender des Erzählkosmos rund um den winkeladvokatigen und doch im Grunde gutmütigen Jimmy McGill aka Saul Goodman:

Folgen Sie uns noch? In welcher Erzählung unserer Tage sind wir so gern damit beschäftigt, aus dem Gezeigten schlau zu werden, und freuen uns derart darüber, schließlich schlau geworden zu sein – ohne dass ein Dialog es uns erklärt hätte. In welcher Erzählung reicht ein Mikro-Zucken im Gesicht einer Schauspielerin, z.B. der großartigen Rhea Seehorn, reicht ein Blick oder eine Bewegung, um so genau nachvollziehen zu können, was ihre Figur gerade empfindet.

Ein herrliches Beispiel für das visuelle, die eigenen Gehirnwindungen spielerisch herausfordernde Erzählen findet sich in der letzten Halbsaison von Better Call Saul. Dabei geht es um eine Episode, die wie ein mittellanger Film für sich selbst stehen könnte und nichts anderes als einen kunstvollen Diebstahl zeigt. Es dauert, bis uns das Licht dieses Coups aufgeht, aber das leuchtet dann umso heller. Die Episode zeigt, wie ein unterforderter Geist sich kriminell Bahn bricht und seine Grenzen neu abstecken möchte. Sie hat die Anmutung eines Zwischenspiels, einer luxuriösen Abweichung von der wesentlichen Geschichte, und doch führt sie schließlich zum Anfang vom Ende Sauls, und das Ende ist so wunderschön wie ein Ende dieser Erzählung nur sein kann (für rauchende wie für nichtrauchende Menschen).

Es geht hier übrigens nicht im Geringsten darum, ob man sich „für Anwaltsserien interessiert“ oder nicht, oder ob man „Lust auf ein schräges Gangsterdrama“ hat oder nicht. Es geht darum, dass man sich in den Figuren dieser universalen Geschichte in einer Weise gespiegelt sehen kann wie in kaum einer anderen epischen Erzählung unserer Tage. Hätte ich meinem Kollegen, der mir derart auf die Nerven geht, diesen argen Streich auch gespielt? Wäre ich dabei soweit gegangen wie Jimmy und Kim? Hat der Kollege nicht verdient, dass man ihm endlich den Stock aus dem Hintern zieht? Hätte ich selbst das Bestechungsgeld der unfassbaren Familie Kettleman angenommen und es mir dann schöngerechnet, so wie die Kettlemans sich Geld ergaunert haben und es sich als fairen Ausgleich für erlittene Unbill schöngerechnet haben? Ich könnte hundert solcher Fragen stellen. Sie könnten sich hundert solcher Fragen selbst stellen, wenn Sie Better Call Saul sehen (und sich nebenbei prächtig unterhalten). Das Leben ist ein permanenter Grenzgang in dieser Serie, wie das Leben vieler Menschen im allumfassenden System kapitalistischer, zu Selbstvermarktung zwingender Gesellschaften – jedenfalls jener Menschen, die ökonomisch prekär leben und nicht scheintot sind. Nur die Fallhöhe ist eine andere. Auf einem anderen Betrugslevel fand übrigens eine zeitlich weitgehend parallel produzierte Serie statt, die in den Ozarks spielt.

Wer aufgrund sozialmedialer oder sonstiger Zufälle schon zuviel vom Ende des Walter-White-Saul-Goodman-Erzähluniversums erfahren hat, wer z.B. schon wusste, wie Heisenberg endet, bevor er oder sie auch nur drei Episoden Breaking Bad gesehen hat, sei versichert: Der Weg ist das Ziel. El Camino hieß passender Weise jener (aus unserer Sicht weniger gelungene) Film, der die Geschichte von Jesse Pinkman auserzählt.

Gehen wir zurück zum Stichwort Anfang und noch einmal zu Thomas Flight, der Breaking Bad liebte und nach anfänglicher Skepsis begeistert war von Better Call Saul, und sehen wir uns mit ihm die Anfänge von Szenen an.

Den größten Schmäh für den trickreichen Jimmy („Slippin‘ Jimmy“ war sein Spitzname als Youngster) haben die Serienschöpfer Vince Gilligan und Peter Gould sich natürlich für das Ende aufgehoben. „Pay-off“ ist ein Hilfsausdruck für den genialen letzten Winkelzug, den Saul – auf dem Weg zurück zu seiner Identität als Jimmy – hier durchzieht, in wunderschön tristem Schwarzweiß, in einer erzählerischen Konsequenz, die tatsächlich ihresgleichen sucht im überbordenden Serienfluss der Gegenwart. Denn auch am Ende gilt noch, dass der Weg das Ziel war.

Kurzes Schlussplädoyer: Es ist dies auch die wahrscheinlich schönste über mehrere Jahre erzählte unromantische Romanze, die es derzeit im Serienfernsehen gibt. Es ist, als würden einander zwei Magnete immer wieder anziehen oder abstoßen, je nachdem in welche Richtung ihre Pole von den Umständen und daraus resultierendem inneren Rappel gedreht werden. Nicht weniger als Idealismus und Pragmatismus im Wechselspiel sind hier personalisiert. Innere Kinder treten zu Tage, Seelen taumeln an den Abgründen ihrer Existenz. Aber letztlich lässt sich die Beziehung zwischen Jimmy und Kim nicht zureichend beschreiben. Man muss sie selbst sehen.