Erbarmen im Ausnahmezustand

Hervorragend: das Apple-Original „Five Days at Memorial“

Memorial Hospital – Die Tage nach Hurrikan Katrina
Five Days at Memorial, 2022, Carlton Cuse, John Ridley

„Five Days at Memorial“ („Memorial Hospital – Die Tage nach Hurrikan Katrina“) rekonstruiert eine Katastrophe unter dem Brennglas vulnerabler Menschlichkeit – sehr sehenswert.

An Orten, wo Krieg oder Klimakrisen herrschen, verschieben sich die Grenzen moralischen Handelns. In extrem schwierigen Situationen schälen sich die Charakterkerne von Individuen heraus; erst in der Herausforderung zeigt sich, welch labile Errungenschaft die Sozialisierung und Zivilisierung des Menschen ist. Die conditio humana steht plötzlich auf dem Prüfstand, alle Theorie dazu ist passé, die Welt ist praktisch eine andere – vom einen auf den anderen Tag.

Bzw. in diesem Fall: vom vierten auf den fünften Tag. Die achtteilige Miniserie Five Days at Memorial verlegt den Fokus der Flutkatastrophe nach Hurrikan Katrina in ein Krankenhaus und beobachtet mit großer Empathie, aber auch mit brutaler Konsequenz, was damals passiert ist (auf Apple TV+, letzte Episode ab 16. September). Die Kunst bestand darin, die Vorgänge der letzten Augusttage des Jahres 2005, als in New Orleans die Dämme brachen, so realitätsnah wie möglich zu rekonstruieren und dabei die zuletzt häufig zitierten „vulnerablen Gruppen“ ins Zentrum zu rücken.

Keine andere Serienerzählung dieser Tage passt – im Schlechten wie im Guten – derart wie die Faust aufs Auge. Nach einem weiteren Sommer der Klimakapriolen und nach zwei Jahren überfüllter Intensivstationen in Krankenhäusern ist es keine überflüssige Übung, (sich selbst) ein paar Fragen zu stellen: Was passiert, wenn in einem Spital der Strom ausfällt und daher nichts mehr funktioniert? Wenn die entsprechenden Notfallpläne nicht umsetzbar sind, wenn eine inkompetente Bürokratie versagt? Wie kann ich dann zum Beispiel meiner schwerkranken Mutter helfen, die in einem Bett dieses Spitals liegt? Und wenn Hilfe von außen mangels eindeutiger Zuständigkeit zu lange auf sich warten lässt: Wieviel Verantwortung kann man in so einem Ausnahmezustand eigentlich dem ärztlichen Personal zumuten? Five Days at Memorial lädt dazu ein, sich wenigstens im eigenen Wohnzimmer mit Ausnahmen zu beschäftigen, die offenbar immer mehr zur Regel werden.

Five Days at Memorial, 2022

Staatsanwaltliche Ermittlungen bilden den Rahmen der klug konzipierten Produktion, für die John Ridley (Oscar für das Skript von 12 Years a Slave) und Carlton Cuse (kreativ mitverantwortlich z.B. für Lost oder Bates Motel) Recherchen von Pulitzer-Preisträgerin Sheri Fink dramatisierten. Die ersten fünf Episoden zeichnen akribisch die fünf Tage nach der Katastrophe im Spital auf – emotionale Achterbahnfahrten, Hitze über 40 Grad, Trinkwassermangel, kaum Notstrom, zunehmender Gestank, insgesamt furchtbare Bedingungen für die im Krankenhaus eingeschlossenen Patientinnen, Angehörigen, Pflegerinnen und Ärzte.

Die anschließenden drei Episoden beschäftigen sich kriminalistisch und juristisch mit der Zahl der Todesopfer, die im Zuge einer viel zu späten und hektischen Evakuierung in die Höhe geschnellt war. Die Ausnahmeschauspielerin Vera Farmiga spielt die Ärztin Dr. Anna Pou, welche an diesem fünften Tag eine diffizile Entscheidung hatte treffen müssen und einige Wochen nach Katrina ins Visier behördlicher Ermittlungen geraten war (es hat offenbar einen Sündenbock gebraucht). Zu den visuellen Besonderheiten der packenden Serie gehören Gedankenblitz-Rückblenden der überforderten Helfer:innen; dokumentarische Newsfeeds bzw. Videos der Überflutungen beglaubigen den Erzählrahmen.

Auf epische vier Seasons haben einst David Simon und Eric Overmyer die Nachwirkungen von Katrina für die Bewohner:innen von New Orleans ausgearbeitet (Treme, 2010–13, flat auf Sky, hier eine damalige Besprechung). Spike Lee dokumentierte persönliche Geschichten der Gepeinigten 2006 in When the Levees Broke (Trailer auf Mubi). Vernachlässigung durch die zuständigen Behörden und Körperschaften sowie struktureller Rassismus standen bei Simon und Lee im Zentrum und sind nun auch in der auf das Krankenhaus konzentrierten Form von Five Days at Memorial wieder wesentliche Aspekte. Stark eine Szene, in der ein 200 Kilo schwerer Afroamerikaner in einem spontanen Kraftakt auf die rostige Hubschrauberplattform des Spitals verfrachtet wird; noch stärker eine weitere Szene, in der ein vergleichbarer Patient ein miserables Schicksal erfährt.

Doch die größte Stärke der Serie liegt in ihren Perspektivverschiebungen. Das kaum nachvollziehbare Innen des Ausnahmezustands wird dem nüchternen Außen der nachmaligen Ermittlungen gegenüber gestellt, mit anderen Worten: Das Fühlen der psychisch wie physisch zehrenden Katastrophe steht im Gegenschnitt zum rechtlich-moralischen Urteilen im bequemen Befragungszimmer.

Krisendrama und Justizthriller spiegelt diese Serie so ineinander, dass die Zuseher:innen im Verlauf die Sicherheit verlieren, wo sie nun eigentlich genauer hinsehen und wie sie sich zum Gezeigten positionieren sollen. Und das wirft eben auf produktiv verstörende Weise die Frage auf, was man selbst an Stelle der Betroffenen tun würde, in einer Extremsituation, die zugleich nach moralischer Trittsicherheit, Erbarmen, Schutz der Patient:innen und Selbstschutz verlangt. Darüber nachdenken kann man anhand Five Days at Memorial jedenfalls vortrefflich; es ist eine spannende, nicht immer angenehme, aber umso wichtigere Seherfahrung.