Fabelhaftes Finale

Streaming-Tipp: „Ozark“ ist komplett.

Ozark, Julia Garner
Ozark, 2017–2022, Bill Dubuque, Mark Williams

Eine aus der US-Serienkultur herausragende Erzählung über Kapitalismus, Gier und Gewalt, über die Verquickung von Charity-Politik, Drogenhandel und Blutsbande geht adäquat zu Ende: „Ozark“, auch als veritables Entertainment-Lehrstück lesbar (auf Netflix). Spoiler unvermeidbar.

Am Ende ist Ozark aus dem Schatten seiner epochalen Referenz-Serie Breaking Bad dann doch deutlich herausgetreten. Dass es sich bei der männlichen Hauptfigur um einen kreativen Buchhalter handelt und nicht um einen krebskranken Chemielehrer – wiewohl beide klassische „Underachiever“ –, half bei der Ausgestaltung der Schlüsselszenen der letzten sieben Folgen. Vierte Saison, zehnte Episode, „The Boss“: Marty Byrde (Jason Bateman, zweifellos auf der Höhe seiner Kunst) muss nach Mexiko, um nach dem Rechten zu sehen und das Kartell davon zu überzeugen, dass der in den USA inhaftierte Drogenbaron Omar Navarro immer noch am Ruder und er selbst mehr als ein Bote ist. Dabei überprüft er die Bücher der Statthalter – und wird fündig.

Wir sehen hier einen Mann, der sich in die Höhle des Löwen, was heißt, in die Höhle eines Löwenrudels begibt. Im Hauptquartier des Kartells muss er einen Boss spielen, damit er als Boss ernst genommen und nicht getötet wird. Dabei wird er von einem Priester und einem Verprügler unterstützt, doch der Schlüssel zu seinem Überleben liegt hierin: Einen Unter-Kapo lässt er so lange foltern, bis der einfach alles gesteht, was Marty hören will. Nicht, dass er gern dabei zuschauen würde. Nicht, dass er Spaß am Leid Anderer hätte. Ein Boss muss halt hart sein. Martys moralische Grenzen hatten sich davor schon elendiglich verschoben (Stück für Stück, wie sich einst Walter Whites moralische Grenzen verschoben hatten), doch einen Menschen waterboarden zu lassen ist eben ein hautnäheres Kaliber als in der Ferne der idyllischen Ozarks, an der „Redneck Riviera“, Drogengeld zu waschen. Koste es, was es wolle: Die Byrdes bauen mit dem florierenden Casino „Missouri Belle“ als Bühnenfassade eine millionenschwere Family Foundation zu Charity-Zwecken beziehungsweise zum eigenen Profit auf und bereiten damit ihre Rückkehr in die wohlangesehenen Chicagoer Finanzkreise vor.

missouri belle
Sofia Hublitz, Jason Bateman, Laura Linney, Skylar Gaertner

Apropos moralische Grenzen: War da nicht etwas mit Martys Gattin Wendy und ihrem Bruder, obwohl sie einst die Einzige auf der Welt war, die ihn geliebt hat? Nur hat Bruderherz halt immer wieder Mist gebaut, und irgendwann hat Wendy halt beschlossen, dass er nun den letzten Mist seines Lebens gebaut hat. Wendys Vater freilich, ein bigotter Gottesmann, ist immer noch auf der Suche nach dem Sohn (herrlich, dass mit Richard Thomas der einstige John-Boy Walton gecastet wurde, Hauptfigur, ältester Sohn, angehender Schriftsteller und Chronist der legendären Siebzigerjahre-Fernsehfamilie The Waltons) und droht Wendy, ihr die Kinder wegzunehmen. Speaking of Wendy: Mit solch einem sardonischen Honigkuchengesicht wie Laura Linney haben wenige Matriarchinnenmonster der Fernsehgeschichte die eigenen Missetaten weggelächelt. Sie ist eine von mehreren großartigen Frauenfiguren der Serie, was Ozark übrigens Breaking Bad voraus hat. In der letzten Halbseason lernen wir noch eine kennen, Omars Schwester Camila Navarro, eine neben der Doppellady Wendy und Marty Macbeth weitere veritable Lady Macbeth; über Leichen gehen die weiblichen Bosse genauso wie die männlichen, die künftigen genauso wie die eingebildeten und die vergangenen – und hüben wie drüben geht es grundlegend um den Machterwerb oder -erhalt, whatever it takes.

„We did it for our family“, sagen die Byrdes einander immer wieder, während die Teenager-Tochter vor Angst in innere Isolation geht und ihr noch jüngerer Bruder lieber selbst für die lokale Misfit-Drogengangsterin Geld wäscht als den Eltern dabei zuzuschauen. Und ebendieser Ruth Langmore, der dritten Hauptfigur von Ozark, vermittels ihrer durchgehend unglaublich guten Darstellerin Julia Garner, dieser starken, frechen, verletzlichen, rüden, empfindsamen, dieser zutiefst menschlichen, aber leider rachsüchtigen Frau, wünscht man natürlich ein gutes Ende – weil aber das Ende von Ozark lieber ehrlich ist als befriedigend, bekommt sie es nicht. Das hat zu Enttäuschungen bei Fans geführt, die so nachvollziehbar wie töricht sind.

Um nicht missverstanden zu werden: Wir vom filmfilter wünschen uns kein Prequel wie im Fall von Breaking Bad; weder haben wir hier eine Figur wie Saul Goodman kennengelernt, deren Vorgeschichte nach einer eigenen Erzählung schreit, noch glauben wir, dass eine Serie von der kongenialen Brillanz der Diptychon-Hälfte Better Call Saul verwirklichbar wäre. Apropos Wirklichkeit: Es soll ja Leute geben, die noch die größten Erzähluniversen der amerikanischen Serienkultur ins Reich der Fabel verweisen, sprich: die Realitätsnähe des Dargestellten nicht begreifen können. Was ist also die Aufgabe einer buchstäblichen Fabel? Sie will belehren und unterhalten (fabula docet et delectat). Nach Lessing soll die Fabel einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen und diesen dann in Form einer Geschichte darstellen. Nun gut, eine mehrsaisonale Serie ist im Vergleich zur antiken Tierfabel etwas länger als eine Python im Vergleich zur Ratte, und der moralischen Sätze gibt es hier gleich mehrere.

Aber was ist Wendy Byrde anderes als eine Wölfin im Schafspelz, die immer mehr Schafe reißt? Und welchen Satz aus Äsops Fabel „Der Wolf und das Lamm“ hat offenkundig der Pragmatiker Marty Byrde verinnerlicht? Frei übersetzt: „Der Starke hat immer recht, egal welchen Topfen er auftischt“. Und wer kriegt den Löwenanteil des blutigen Drogengelds? Die ehemalige Kartellanwältin Helen Pierce war dann eher der Esel in dieser Unterfabel, wie sich zum Ende der dritten Saison zeigt, plastisch bis in die vierte hineinwirkend. Die Analogien ließen sich fortsetzen. Was die Ozark-Kreativen unter der Ägide von Bill Dubuque und Mark Williams hier geschaffen haben, ist ein Entertainment-Lehrstück, das Oberschüler:innen der vormaligen Trump-Fake-Country als Pflichtprogramm vorgesetzt bekommen müssten, um aufs College zu dürfen. Dabei würde eventuell nur die zweite Season – in ihrer Langsamkeit und sorgfältigen Charakterisierung der Figuren nach der actionreichen ersten Season –, als Pflicht empfunden werden, die übrigen womöglich gar als Kür. Und alle hätten Spaß am Auszucker Martys im Verkehrsstau, als der Buchhalter unter Starkdruck tatsächlich einmal die eigenen Fäuste sprechen lässt.

Ozark-Titelkarten

Spaß am Raten hätten sie auch, zumindest jene Zwölftklässler, die Ozark noch nicht freiwillig gesehen haben: Die fünfsekündige Credit-Titelkarte (angeblich wollte Jason Bateman keinen langweiligen Anderthalbminüter) zu Beginn jeder Folge enthält signifikante Hinweise – jeweils vier Symbole, die Plotpoints vorwegnehmen. Wer es nicht bemerkt hat: die fünf Buchstaben des Titels Ozark stecken in jeder Karte. Das Ganze erinnert ein wenig an den Breaking-Bad-Schmäh, als die Titel der mit Rückblenden versehenen Episoden der zweiten Season zusammengelesen das Kernereignis am Ende der Season ergaben, nämlich, Vorsicht Spoiler für die Immer-noch-nicht-Heisenberg-Kenner: „Seven Thirty-Seven Down Over ABQ“.

Ach ja, und wer uns nicht glauben mag, wie formidabel und vorzüglich und an Stellen fulminant diese Serie ist, kann ja hier nachlesen oder hier oder hier oder auch, Stichwort Lady Macbeth, hier. Wir haben fertig.