Brief aus Berlin …

… wo mal wieder der Bär tobt.

Franz, Fiala, Des Teufels Bad
Des Teufels Bad, 2024, Veronika Franz, Severin Fiala

Berlinale 2024: Von Scheibbs bis Nebraska, bzw. von Favoriten über Maria Lassnig über den Teufel bis zu Henry Fondas Amerika ist Österreich in der letzten Ausgabe unter Carlo Chatrian vertreten.

Am Potsdamerplatz in Berlin finden derzeit die alljährlichen Absperrgitter-Manöver statt. Denn die Besucherströme der Internationalen Filmfestspiele aka Berlinale müssen gelenkt werden: die angereiste Journaille, die Stars und die Sternchen, die Limousinen, die Gaffer und ja, auch das zahlende Publikum, zumindest jenes, das über Smartfon und Kreditkarte verfügt, denn anders kommt man so gut wie nicht mehr an Tickets. Sie alle müssen ans Gängelband, auf dass sie nicht in die Irre gehen oder kreuz und quer und erst recht nicht spontan beziehungsweise bewegungsfrei.

In jeder Hinsicht schöner und gemütlicher ist es in der Akademie der Künste, einem am Tiergarten gelegener Flachbau aus Ziegeln, Holz und Stahl, vermutlich aus den Fünfzigern. Hier finden unter anderem Premieren der Sektion Encounters statt, jener von Carlo Chatrian ins Leben gerufenen Sektion, deren Profil sich auch in diesem seinem letzten Dienstjahr nicht schärfen will, sowie Vorführungen der Berlinale Classics. Im Rahmen derer kam gleich zu Beginn eine wunderschön digital restaurierte Kopie von Gojira (Honda Ishiro, Japan 1954) zur Aufführung, der erste dem König der Monster gewidmete Film, der in diesem Jahr seinen Siebzigsten Geburtstag feiert. Das Bild ist frisch geputzt, aber nicht überschärft und auch nicht steril, der Ton ist von jeglichem Rauschen befreit und lässt Godzillas Stimme sauber und klar ertönen; es ist eine Lust, diesen Klassiker in dieser Form wieder erstanden zu sehen – und ein Schrecken ist es, dass er mit seiner Botschaft gegen Aufrüstung, Krieg und Vernichtung genau in unsere Gegenwart passt.

Doch damit genug der wehmütigen Rückschau auf die Vergangenheit und entsetzten Umschau im Heute, blicken wir zuversichtlich in die Zukunft und holen uns in Ruth Beckermanns Favoriten (Sektion Encounters) gleich mal einen ordentlichen Dämpfer ab. Wie unter anderem bereits Nicolas Philibert mit Etre et avoir (2002) und Maria Speth mit Herr Bachmann und seine Klasse (2021) begibt sich auch Beckermann in die Schule und beobachtet, wie das Erziehen vor sich geht. Stichwort: Bildungsmisere. Es ist ernüchternd, was in dieser Langzeitbeobachtung an einer Grundschule im titelgebenden Wiener Gemeindebezirk und am Beispiel einer Schülerschar mit überwiegend migrantischen Hintergründen sowie deren engagierter Lehrerin zu sehen ist. Zu viele Kinder, die zu wenig Deutsch können und zu wenige Lehrer, denen zu wenig Geld zur Verfügung steht, um mehr als nur ein paar wenigen aus den vielen einen wirklich guten Start ins Leben zu ermöglichen. Zutrauen in die integrativen Fähigkeiten einer multikulturellen Gesellschaft vermittelt die bittere Realität, die sich hier unkommentiert entfaltet, nicht.

Dabei sollen im Kino doch angeblich Träume zur Aufführung kommen … auch so ein Missverständnis. An dessen Mit-Aufklärung arbeitet Alexander Horwath in seinem tiefgründigen und klugen Essayfilm Henry Fonda for President (Sektion Forum). Horwath nähert sich seinem Lieblingsschauspieler aus vielerlei Perspektive, verwebt Laufbahn und biografische Selbstzeugnisse mit der Geschichte des Landes, des Raubens und des Mordens und seiner politischen Entwicklung; dabei schließt er immer wieder Fonda in Präsidenten-Rollen mit dem realen Schauspiel der Politik kurz und arbeitet auf solche Weise in der Welt der Fiktion eine gesellschaftliche und persönliche Ethik heraus, die so dringend notwendig in der Wirklichkeit wirksam sein müsste. Keine Minute langweilig, höchst empfehlenswert, ein echtes Virtuosenstück.

Dies gesagt habend, wenden wir uns ohne Überleitung Anja Salomonowitz zu, die mit Birgit Minichmayr in der Hauptrolle ein Biopic der großen österreichischen Malerin Maria Lassnig geschaffen hat: Mit einem Tiger schlafen (Sektion Forum) springt wie ein solcher befreit durch die Zeiten und Räume und zeigt das Schaffen der Lassnig als ein permanentes Ringen um eine adäquate Darstellung des Empfindens des Körpers, das wiederum aus der wechselnden Relation von Masse, Druck und Drohung sich speist. Man kann sich das gar nicht schwierig genug vorstellen, doch Minichmayr und Salomonowitz gelingt es tatsächlich, davon nicht nur einen Begriff, sondern auch ein Gefühl zu vermitteln. Flankiert wird der Film von einer Auswahl experimenteller (Animations-)Kurzfilme Lassnigs, die vergnüglich-erhellend Gelegenheit bieten, die neuen Erkenntnisse zu überprüfen.

Währenddessen dümpelt der Wettbewerb, wie er das bei der Berlinale ja immer tut, vor sich hin. Bis einer einen Stein hineinwirft. Vor ein paar Tagen war das Matthias Glasner mit einem hochkarätig besetzten dreistündigen Opus, das unter dem launemachenden Titel Sterben sich mit dem Siechtum von Familienmitgliedern und Freunden und dem Umgang damit beschäftigte. Und in dem es tatsächlich derart schmerzhaft wahr zuging, dass mitunter auch gelacht werden konnte. Ein harter Brocken.

Schließlich feierte auch Des Teufels Bad von Veronika Franz und Severin Fiala bei der Berlinale Premiere, eine starke, im Jahre 1750 in Oberösterreich angesiedelte Tragödie, die sich mit dem historischen Phänomen des sogenannten „mittelbaren Selbstmords“ beschäftigt. Es handelt sich dabei um eine komplexe Konstruktion, vermittels derer der gläubige Mensch der Selbstmördern vorbehaltenen Hölle entgeht. Die Wurzel des Übels allerdings ist die Depression, die im vorliegenden Fall die junge Agnes ergreift, die den Fischer Wolf heiratet, der rein gar nichts mit ihr anfangen kann. Und so kann Agnes die ihr bestimmte Rolle nicht erfüllen; und weil es keinen Begriff gibt für ihre irritierende Befindlichkeit außer sie sei eben in „des Teufels Bad“ gefangen, mit dem die Menschen damals die Melancholie beschrieben, nimmt das Verhängnis ungebremsten Verlauf. Und Franz/Fiala schlittern mit in den Abgrund, weichen Agnes nicht von der Seite, die wiederum von Anja Plaschg – die in ihrer Musikerinnen-Identität als Soap&Skin auch für die aufwühlende Filmmusik sorgt – mit unbedingter Solidarität und in ihrer ganzen rastlosen Verzweiflung verkörpert wird.

Nicht von ungefähr erinnert Des Teufels Bad an Robert Eggers The Witch (2015), der gleichermaßen von historischem Material ausgehend, nur ein Jahrhundert früher, aus der magischen Weltwahrnehmung den Horror der freidrehenden Psyche schälte. Gut passen mag er auch zum diesjährigen Eröffnungsfilm, der zur Abwechslung und zur allgemeinen Überraschung ziemlich fulminant ausfiel: In Small Things Like These von Tim Mielants stellt Cillian Murphy seinen eh schon brillianten Oppenheimer noch in den finsteren Schatten; er spielt einen Kohlenhändler in einer Kleinstadt im irischen Wexford Mitte der 1980er, der sich mit dem Missbrauchstreiben im örtlichen Magdalenenheim nicht mehr länger abfinden mag. Ein ganz stiller und außerordentlich eindrücklicher Film zum Thema Terrorherrschaft des Katholizismus und seiner rigiden Sexualmoral, dem sich nun Franz’/Fialas Trumm als ein flankierendes oder Komplementärstück beigesellt.

Und, wie schon vielfach berichtet: Josef Hader war auch da, wiederum mit Birgit Minichmayr et al.