To binge or not to binge

Hat das Binge-Modell seinen Zenit überschritten?

Andrew Garfield, Gil Birmingham, Under the Banner of Heaven
Under the Banner of Heaven, 2022, Dustin Lance Black © FX Networks

Ich bin eine überzeugte Anhängerin der Binge-Methode, seit ich House of Cards vor bald zehn Jahren in einer Tour verschluckt habe. Die Einführung des etwas despektierlich auch „Binge and Purge“ („sich vollstopfen und erbrechen“) genannten Modells durch Netflix stellte eine grundlegende Veränderung im Fernsehen dar – und es war ausschlaggebend für den frühen Erfolg des Streamers. Netflix veränderte die Art, Serien anzusehen: nämlich eine gesamte Staffel in nur einer, zwei oder drei Sitzungen. Andere haben das Modell übernommen, aber man denkt bei dem Begriff zumeist an Netflix – was dem Streamer im Wesentlichen kostenlose Werbung ermöglicht.

Viele waren begeistert darüber, selbst entscheiden zu können, was sie wann sehen. Die Kunstform der einzelnen Episode bzw. deren Anerkennung mag darunter gelitten haben, aber das Modell befeuerte die Ausformung der neuen Serienromane mit Filmqualität. Die nicht mehr ganz Jungen unter uns erinnern sich daran, als wir standardmäßig daran gewöhnt waren, eine Woche auf die nächste Folge unserer Lieblingssendung zu warten – bis Netflix diese Ausspielungs-Strategie über den Haufen warf. Nun, alles Alte ist irgendwann wieder neu: Immer mehr Streamingdienste spielen Serien wöchentlich aus und kehren zum alten TV-Modell zurück.

Die Headline einer amerikanischen Website lautet: „2021 Was the Year Binge-Watching Took a Back Seat to Weekly TV“. Laut diesem Artikel von The Ringer, der Daten von Parrot Analytics zitierte, verwendeten 62 Prozent der 50 besten neuen Streaming-Serien des Jahres 2021 eine Art wöchentliche Veröffentlichungsstrategie, gegenüber etwa 30 Prozent in den vorangegangenen zwei Jahren.

Als ich mir also vor wenigen Wochen die erste Folge der Hulu-Serie Under the Banner of Heaven ansah, war ein Teil von mir unglaublich irritiert, dass ich nicht sieben Stunden auf einmal sehen konnte. Während Hulu weiterhin die meisten Komödien als Binge veröffentlicht, werden fast alle Dramen und limitierten Serien des US-Streamers Woche für Woche ausgestrahlt. Und da neue Plattformen in den USA wie Disney+, Apple TV+, HBO Max, Peacock und Paramount+ in den vergangenen zwei Jahren aufgetaucht sind, haben auch diese Streamer wöchentliche Episoden als Strategie bevorzugt.

Disney+ verwendet das wöchentliche Modell und hofft darauf, dass Fans von Marvel und Star Wars immer wieder zurückkehren, um neue Folgen von Obi-Wan Kenobi oder Moon Knight zu sehen. Warum alles auf einmal rausschmeißen, wenn man eine Pawlow’sche Reaktion bei den Zuseher:innen hervorrufen kann? Unterdessen hat Netflix seine Binge-Politik mit Veröffentlichungen wie der hauseigenen Great British Baking Show langsam zurückgenommen.

Sogar Amazon Prime Video scheint sich auf episodisch zu verlagern: Der Megahit The Boys kam in der ersten Staffel als Binge heraus, wurde aber in der zweiten wöchentlich. Die dritte Staffel ist am 3. Juni gestartet. Drei Folgen konnte man über Pfingsten durchbingen, dann erscheint immer freitags eine neue Folge – eine Art Hybrid-Modell. Apple TV+ hat die ersten drei Folgen der ersten Staffel von Ted Lasso auf einmal veröffentlicht und dann episodisch danach, wobei die zweite Staffel von Anfang an wöchentlich ausgestrahlt wurde. Im Fall der überdies in zwei Hälften geteilten Finalseason von Better Call Saul geht Netflix nun ebenfalls hybrid vor.

(Es gibt übrigens News zur letzten Halbseason von BCS, hier unsere textliche Begleitung der vorletzten.)

Das klassische Modell der Fernsehausstrahlungen könnte das TV-Publikum langfristig an die Streamer binden, was dazu anregt, die monatlichen Gebühren zu zahlen. Für Plattformen, die stärker auf Werbung angewiesen sind, ist diese Langlebigkeit noch wichtiger. Eine wöchentliche Veröffentlichung ermöglicht es neuen Serien auch Mundpropaganda aufzubauen, wodurch die Wahrscheinlichkeit verringert wird, dass sie in der Flut von Serien verloren gehen.

Das Binging hat vieles von dem, was das Fernsehen einst auszeichnete – das sorgfältig abgestimmte Geschichtenerzählen, die Cliffhanger oder das gemeinsame Zuschauen – beseitigt. Wer vorletztes Wochenende damit verbracht hat, die vierte Staffel von Stranger Things in ihrer Gesamtheit zu schauen (hier unser Resümee), hat sich am Ende vielleicht erschöpft gefühlt – und geradezu deprimiert, dass man bis Juli auf die nächsten Folgen warten muss. Man hat vielleicht die eine oder andere Verabredung abgesagt. Nennen wir es das „Binge-Dilemma“. Es ist sehr bequem, hat uns aber auch vielleicht eine Spur einsamer gemacht.

Binge wird nicht weggehen. Netflix bleibt eine Supermacht und die überwältigende Serienschwemme macht es immer schwieriger, ein breites Publikum für Programme zu finden, da jede einzelne Serie mit hunderten anderen konkurriert. Infolgedessen müssen Serien, die für Streaming-Plattformen entwickelt werden, kompakt, ansprechend und vollständig verfügbar sein, damit ein Binge die Zuschauer:innen süchtig macht. Wenn eine ganze Season auf einmal verfügbar ist, ist es schwer, dem Sirenengesang der „nächsten Folge“ zu widerstehen. Und wenn eine Serie innerhalb von Stunden nicht mehr aktuell ist, dann müssen immer mehr produziert werden, um das Publikum bei der Stange zu halten.

Es gibt keine objektive Antwort darauf, welches Modell besser ist, und es ist wohl zu früh zu sagen, ob ein Modell das andere verdrängen wird. Auch ist die Art der Veröffentlichung einer Serie eine jeweils strategische Geschäftsentscheidung, die darauf abzielt, den Erfolg einer bestimmten Show zu maximieren. (Beim Ozark-Finale z.B.: geteilt in Halbseasons, aber jeweils alle Folgen. „They have to be binged to be believed“, hieß es über die allerletzten Folgen von Ozark in einer US-Kritik. Hier unsere abschließende Besprechung dieser überlangen Fabel.)

Generell gesprochen: Vielleicht ist ein Modell des Mini-Binge mit drei Folgen, gefolgt von einer wöchentlichen Veröffentlichung, der Kompromiss der Zukunft.