Mom, I just won an Oscar!

Marietta Steinhart über die Oscar-Verleihung im Zeichen des American Dream

Kwan, Scheinert, Everything Everywhere All at Once
Everything Everywhere All at Once, 2022, David Kwan, David Scheinert

Oscars 2023: vom Flüchtlingsboot nach Hollywood. Der Amerikanische Traum wurde für tot erklärt, doch sieht man sich die 95. Oscars an, ist er lebendiger denn je – zumindest in der Traumfabrik.

Niemand wurde bei den diesjährigen Oscars gewatscht, und auch sonst gab es keine ungeplante Action. Nein, hier lief alles glatt. Der Teppich war nicht rot, sondern schön champagnerfarben, und das Bühnenbild war makellos in vergoldeten Glamour im Great-Gatsby-Stil eingetaucht. F. Scott Fitzgeralds reueloser Romantiker Jay Gatsby mag am American Dream gescheitert sein, aber Sonntagabend wurden in Hollywood wieder einmal Träume wahr und die Gewinner:innen wollten, dass wir das auch spüren.

Michelle Yeoh gewann einen verdienten Oscar als beste Hauptdarstellerin in Everything Everywhere All at Once und begann ihre Rede damit, dass sie „ein Leuchtfeuer der Hoffnung“ für alle Buben und Mädchen sei, die aussehen wie sie. „Das ist der Beweis, dass Träume wahr werden.“ Die 60-jährige Malaysierin, in Asien längst ein Mega-Star, spielt eine chinesische Waschsalonbesitzerin in Amerika, die zur Superheldin wird und am Ende sogar ihre Steuern zahlen will! Die sieben Oscars, die das Mid-Budget-Indie-Movie der „Daniels“ gestern Abend abräumte, waren eine wichtige Wertschätzung der asiatisch-amerikanischen Kultur und des Lebens von Einwanderern in Amerika.

„This is the American dream!“ (in der besten Art von Multiversum ist es das wahrscheinlich), rief der in Vietnam geborene Ke Huy Quan, nachdem er als bester Nebendarsteller im selben Film ausgezeichnet worden war. Als Bootsflüchtling sei er in Amerika angekommen, jetzt stehe er auf Hollywoods größter Bühne: „Mama, ich habe gerade den Oscar gewonnen!“ schrie er ins Mikrofon.

Bei ihrer Mutter bedankte sich auch seine Filmkollegin Jamie Lee Curtis unter Tränen und widmete ihren Award als beste Nebendarstellerin ihren verstorbenen Eltern Tony Curtis und Janet Leigh, die nie einen Oscar bekamen, für ihre Rollen in The Defiant One (1958) und Psycho (1960) aber wohl einen verdient hätten.

Brendan Fraser nahm den Preis als bester Hauptdarsteller für die Rolle eines sterbenden, übergewichtigen, homosexuellen Lehrers in Darren Aronofskys Drama The Whale entgegen. Der 54-jährige Schauspieler, der um die Jahrtausendwende mit dem Abenteuerfilm The Mummy zum Star wurde, verschwand in einem Karriereloch (Metoo avant la lettre), aber Hollywood hat schon oft bewiesen, wie sehr es auf ein gutes Comeback steht.

Diese großen Gewinner der Oscars 2023 standen größtenteils im Voraus fest. Der Sieg von Everything Everywhere All at Once für den besten Film war in Stein gemeißelt, bevor der Abend begann, es mangelte also ein wenig an Spannung. Für so einen erwartbaren Verlauf der Show wäre dann auch kein Krisenteam (das heuer für unerwartete Katastrophen wie Will Smiths Ohrfeige eingestellt wurde) nötig gewesen.

Die Show begann damit, dass Moderator Jimmy Kimmel nach einer kurzen Top-Gun-Parodie buchstäblich mit dem Fallschirm auf der Bühne landete. Er hat die Oscar-Ohrfeige des vergangenen Jahres nicht gescheut, aber er hat sich auch nicht allzu lange damit aufgehalten. Wer auch immer diesmal Gewalt anwende, so der Moderator: „Sie erhalten den Oscar für den besten Schauspieler“.

Natürlich hat niemand Gewalttaten begangen an diesem Abend oder sonst etwas Außergewöhnliches getan. Die ABC-Muttergesellschaft Disney hat schamlos Werbung für ihre Live-Action-Version von The Little Mermaid gemacht, der Esel aus The Banshees of Inisherin (oder ein Esel, der den Esel spielt) erschien auf der Bühne, und David Byrne wedelte mit entzückenden Würstel-Fingern herum. Musikalischer Höhepunkt des Abends war aber zweifelsohne der Schnipsel aus „Top of the World“, gesungen vom Komponisten M.M. Keeravani, als „Naatu Naatu“, der Filmsong aus dem indischen Action-Epos RRR einen Oscar gewann. Für einen der emotionalsten Momente an diesem sonst recht realitätsfremden Abend sorgte Julija Nawalnaja, die Ehefrau des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, die den Preis für Navalny als besten Dokumentarfilm entgegen nahm.

Play it safe war also das Motto der Oscars 2023 und so fühlte sich der ganze Abend an: gut geölt und komplett programmiert. Das ist beim Live-Fernsehen aber ein Problem: Wenn nichts Unerwartetes passiert (außer vielleicht, dass Hugh Grant sein Gesicht als Hodensack bezeichnet), kann man nur mit den Achseln zucken.

Ob es gereicht hat, den freien Fall der Einschaltquoten aufzuhalten, lässt sich noch nicht abschätzen. Da die Aufmerksamkeitskonkurrenz immer stärker wird und die Menschen zentrifugal von Oldschool-Kulturveranstaltungen wegzieht, kann die Existenzkrise der Oscars ohne weitere Runderneuerung nicht abgesagt werden. Weder Ohrfeigen noch die Träumer dieser Welt werden dafür sorgen.

Trotzdem kann man es schön finden, wie Mut, Risiko und Ausdauer belohnt werden können. „Wenn Filmhistoriker auf die 95. Oscar-Verleihung zurückblicken, könnten sie dies als den Beginn eines neuen New Hollywood markieren“, schrieb Brooks Barnes von der New York Times.