Der sinkenden Abozahlen geschuldete Aktieneinbruch von Netflix ändert nichts daran: Mit „Better Call Saul“ („BCS“) verfügt der Streamer über das Finale des mit der Stammerzählung „Breaking Bad“ wohl gehaltvollsten US-Seriendoppels unserer Zeit. Dazu eine kleine Apologie der Netflix-Miniserie „Anatomy of a Scandal“.
In dieser Woche ging Better Call Saul in seine letzte Runde, besser gesagt, in die erste Halbrunde der letzten Runde: Gezeigt werden die ersten sieben der letzten 13 Folgen (der Rest kommt ab 11. Juli). Netflix hat sich entschieden, nicht wie üblich alle verfügbaren Episoden auf einmal online zu stellen, sondern nur die ersten beiden, die Episoden drei bis sieben folgen im Wochenrhythmus. (Das dürfte mit der Ausstrahlung in den USA auf AMC zu tun haben; Gründe für den Absturz des Streaming-Giganten auf dem Aktienmarkt hier, man denkt bereits über werbeunterstützte Angebote nach.)
Bob Odenkirk hat also seinen Herzinfarkt überstanden und so kann die Geschichte von Jimmy McGill bka Saul Goodman auserzählt werden, genauer: kann sich das Erzähluniversum des Prequels Better Call Saul (BCS) mit der Stammerzählung Breaking Bad (BB), die rund fünf Jahre nach dem Beginn von BCS spielt, verbinden. Wie dieses künstliche Gelenk aussehen wird, welche narrative Beweglichkeit es auszeichnen, wieviel Knorpelmasse als Kollateralschaden aufgerieben und wie der Goodman endgültig zum bad man (oder jedenfalls zum öligen Winkeladvokaten) wird: Es steht zwar nicht in den Sternen, aber derzeit noch ausschließlich in den Gehirnen der Beteiligten, für das großartige Kreativteam stellvertretend zu nennen: die Serienschöpfer Vince Gilligan und Peter Gould.

Die weitgehend spoilerfreien Fakten: Der vormalige Chemielehrer und spätere Drogenbaron Walter White (Bryan Cranston) und sein vormaliger Schüler und späterer Vertriebs-Assistent Jesse Pinkman (Aaron Paul) werden einen Gastauftritt in der finalen BCS-Season haben, aber keinen gemeinsamen. Kim Wexler (Rhea Seehorn darf die komplexeste und daher dankbarste Frauenfigur spielen), hat sich gerade erst in der Vorsaison – übrigens hinreißend unromantisch – mit Jimmy vermählt, wird aber dennoch verschwinden, denn in Breaking Bad kommt die Figur nicht vor. Drogendealer Nacho Varga (Michael Mando) entwickelte sich zu einer der beliebtesten Figuren der Serie, wird sich aber der Rache des Salamanca-Kartells nach dem Anschlag auf Lalo (Tony Dalton) schwerlich entziehen können. Gus Fring (Giancarlo Esposito) gibt nach wie vor den ausgefuchsten, diplomatischen Entrepreneur und sein Handlanger Mike Ehrmantraut (Jonathan Banks) macht weiter, was er am besten kann: aufräumen, Leute verscheuchen, aufräumen, Leute beschützen, aufräumen.
Auf welche Weise auch immer die Sache ausgeht bzw. zu BB aufschließt bzw. sich damit überschneidet (und der filmfilter ist nicht als Superlativschleuder bekannt): Es handelt sich bei dem Seriendoppel BB-BCS um die geistreichste und bildsprachlich ausgefeilteste US-Serienerzählung unserer Tage. Kein anderes Diptychon erzählt gehaltvoller von den Systemzwängen des Kapitalismus bzw. davon, wie der Systemdruck der geldgesteuerten US-amerikanischen Gesellschaft im Verein mit der grenzenlosen Doppelmoralität (der legalen Corporate Gangster) und der unerschöpflichen Selbstherrlichkeit (der Drogen-Gangster) das Individuum deformiert. Schauplatz Albuquerque, New Mexico – eine rasch wachsende und fast ebenso rasch verödende Stadt, einerseits typisch zwischen 0815-Mall, comic-hafter Fastfoodkette, gestaltloser Wohnburg, Vorgartenidylle, Motorhome, verfallender Industriezone, protziger Anwaltsfirma und nüchternem Bürokomplex. Andererseits: Nur vier Breitengrade südlich davon herrscht schon die Wüste des Borderline Syndroms, die Welt der Schlepper und Kartellführer und der korrupten „Federales“, das spiegelt sich eindrücklich in den Westernlandschaften und in den derangierten Details, die immer wieder symbolträchtig die Vordergründe dieser raffinierten Erzählungen dominieren.
Und: Wie BB ist auch dies ein Entwicklungsroman. Über die wunderbar vielschichtigen Hauptfiguren von BCS, in denen höchstprofessionelles Arbeitsethos, Seelenverletzungs-Schutzmaßnahme und infantile Lust, seinem Gegner eine reinzusemmeln, ständig um die Vorherrschaft ringen, über den schwarzen Humor und das Stilmittel des comic reliefs dann zum Ende von BCS ausführlicher.
Der filmfilter bleibt nämlich – selbstverständlich – dran, ein sachdienlicher Rezeptionshinweis noch: Wer jetzt endlich mit BCS startet, wird womöglich bis Juli zur ultimativen Halbsaison fertig und kann danach, falls immer noch nicht gesehen, erzählzeitlich daran anschließend BB genießen. (Alle übrigen Seasons beider Serien sind auf Netflix bzw. auf Disc verfügbar). Die ebenfalls bald an ihr Ende kommende Serie Ozark knüpft übrigens, bis hin zum Zitat herausragender BB-Szenen, in Sachen amerikanischer Korruptions-Großerzählung in allen Schichten und auf allen Ebenen, nahtlos an Better-Call-Saul-Breaking-Bad an. Treffender kann man über die Conditio humana, jedenfalls im Format eines in Etappen getakteten Entertainment-Marathons, kaum erzählen.
Ein paar Sätze noch zu Anatomy of a Scandal, weil diese Quasi-Metoo-Miniserie aus der Feder von Melissa James Gibson und Mastermind David E. Kelley, zurecht gefeiert noch für Big Little Lies (flat auf Sky), insbesondere bei weiblichen US-Kritikerkollegen tendenziell weniger gut ankommt: Ja, es ist eine überkonstruierte Story (basierend auf einem Bestseller der ehemaligen Guardian-Journalistin Sarah Hall bka Sarah Vaughan) mit zu vielen soapy Flashbacks und cheap Thrills. Ja, die von Sienna Miller gespielte Ehefrau des delinquenten Politikers bleibt farblos. Aber dafür ist die von Michelle Dockery gespielte Staatsanwältin eine Wucht, nicht nur wegen ihres dunklen Geheimnisses; solchen Frauen sieht man einfach gern zu.
Und nein, die Serie haut nicht daneben, was ihr Metoo-Thema betrifft. Der britische Minister (Rupert Friend), der hier zu Fall gebracht werden soll, hat zwar einen Fehler gemacht, aber aus seiner Sicht keine Grenze überschritten, als er mit seiner Ex-Büro-Affäre in einem Aufzug im Unterhaus Sex hatte. Aus ihrer Sicht allerdings hat er sie vergewaltigt (und ihre Sicht wird, außer vor Gericht, geringer ausgeleuchtet). Zeugen wie zumeist in solchen Fällen: keine, oder nur leidlich brauchbare. Um Aussage gegen Aussage und insofern um die Qualität der rechtsfreundlichen Vertretung geht es in diesem juicy Courtroom-Drama freilich nur im Vordergrund. Diffuse Vergewaltigungsfälle werden in anderen Werken exemplarischer und authentischer abgehandelt (unbedingte filmfilter-Miniserien-Empfehlungen: Unbelievable, ebenfalls auf Netflix; die zuwenig gesehene Topserie I May Destroy You, und wer es als poppiges Rape-Revenge-Movie mag: Promising Young Woman, beide flat auf Sky und anderswo).
Worum es wirklich geht in Anatomy of a Scandal, sind Machtverhältnisse. Es geht um Knabenbünde, aus denen Jahrzehnte währende Männerbünde mit beruflicher Erfolgsgarantie werden. Um unverbrüchliche Seilschaften, aus denen loyale Lügenbrüder hervorgehen, jedenfalls solange, bis es einem von ihnen ernsthaft an den Kragen geht. Würden toxische Männerbünde wie der hier anatomisch aufgerollte nicht existieren, es gäbe weniger Übergriffe. Außerdem stünden überall mehr High-Level-Jobs für fähige Frauen und Männer außerhalb von Seilschaften zur Verfügung.