Traumabewältigung

Streaming-Tipps KW 21

stranger things season 4
Stranger Things, 2016–, Matt Duffer, Ross Duffer

„Stranger Things“ kommt zur Rettung von Netflix und Arte zeigt mit „Flee“ einen der menschlich stärksten Filme des vergangenen Jahres.

Netflix kann eine neue Season eines seiner größten Hits gerade gut gebrauchen. Wir haben drei lange Jahre darauf gewartet, nach Hawkins zurückzukehren, in die fiktive Stadt, in der sich gelegentlich schleimige Portale zu einem alptraumhaften Paralleluniversum öffnen. Doch das Warten hat sich gelohnt. Die neuen Folgen von Stranger Things sind großartig und es gibt endlich Antworten auf gewisse Fragen (keine Spoiler).

Die Duffer-Brüder haben die vierte Season ihre Game of Thrones-Staffel genannt, und es ist ein passender Vergleich, denn jede Folge fühlt sich wie ein actiongeladener Mini-Film an. Die Spezialeffekte sind noch besser als in den vorangegangenen Staffeln – zumal die Fortsetzung viel mehr Zeit im Upside Down verbringt. Mehr Budget bedeutet nicht immer eine bessere Produktion, aber man kann sehen, wie die Serienschöpfer ihr angebliches Episodenbudget von 30 Millionen Dollar voll ausgeschöpft haben.

Die Fortsetzung der populären Sci-Fi-Horrorserie beginnt im Frühling 1986. Kate Bush und Falco schwirren durch die Luft. Es ist etwa ein halbes Jahr her, seitdem ein riesiges Spinnenmonster ein Einkaufszentrum zerstört hat. Unsere Heldinnen und Helden haben sich auf der Welt verstreut. Die Byers, angeführt von Joyce (Winona Ryder), und eine immer noch machtlose Eleven (Millie Bobby Brown) sind in Kalifornien. Dort wird Eleven von bösen Klassenkameradinnen gemobbt und erleidet einen Wutanfall in Carrie-Manier; der arme Jim Hopper (David Harbour) sucht in einem sowjetischen Gefängnis nach einem Ausweg (während wir einen Ausweg aus dieser langweiligen Nebenhandlung suchen); und die pubertierende Hawkins-Crew (u.a. Finn Wolfhard, Gaten Matarazzo, Caleb McLaughlin und Sadie Sink) kommt auf die High School. Sie sind jetzt größer, aber auch alle auf die eine oder andere Art traumatisiert (die neue Staffel berührt Dinge wie Alkoholismus, Bulimie und Depressionen) und bleiben so sehenswert wie eh und je.

stranger things season 4
Stranger Things S4

Natürlich gibt es auch ein Monster in Stranger Things. Es verfolgt seine Opfer, indem es ihre schlimmsten Ängste und Erinnerungen ausnutzt, sie dann in die Luft hebt und ihnen mit einem lauten Knirschen die Gliedmaßen bricht. Die Kinder nennen es Vecna, eine Anspielung auf einen Schurken aus Dungeons & Dragons. Die Kreatur ist das atemraubende Produkt von Barrie Gower, dem Maskenbildner hinter Game of Thrones’ Night King und den Strahlenopfern in Chernobyl. Es sieht aus wie eine Mischung aus beiden, hat ein bisschen was von Swamp Thing und ist dementsprechend grausig. Vecna ist auch eine explizite Anspielung auf Freddy Krueger, sehnig, mit riesigen Klauen; imposant, wie er ​​mit dem Mysterium der gesamten Serie verknüpft ist.

Abgesehen vom starken Einfluss von Nightmare on Elm Street gibt es auch mehr als nur ein paar Hommagen an Horrorklassiker wie Carrie, Halloween, Jaws, Poltergeist und so weiter. Stephen King, John Carpenter, Wes Craven, allen steht man hier Spalier. Auch die Spielberg’sche Essenz ist immer noch da.

Sechs der sieben am 27. Mai veröffentlichten, vom filmfilter bereits gesichteten Episoden sind mindestens 73 Minuten lang. Der Rest der vierten Stranger Things Season hat nur zwei Folgen, wird am 1. Juli veröffentlicht, und wir wissen, dass mindestens eine dieser Folgen zweieinhalb Stunden dauern wird. Man braucht schon ein wenig Sitzfleisch, aber wer denkt, dass das nicht binge-freundlich ist, irrt.

Auf ganz andere Weise beeindruckend ist Flee (bis 28.7. in der Arte Mediathek), die Geschichte eines afghanischen Flüchtlings. Der animierte Dokumentarfilm des dänischen Regisseurs Jonas Poher Rasmussen ist ein zutiefst intimes Porträt anhaltender Traumata und einer der humanistisch stärksten Filme des vergangenen Jahres. Er beginnt damit, dass Amin Nawabi (unter einem Pseudonym, um seine Identität zu schützen) vor der Kamera sitzt und die Augen schließt. Er atmet tief ein und Erinnerungen beginnen aus ihm heraus zu sickern.

Amin ist handgezeichnet – wie fast der gesamte Film. Zuerst ist er ein kleiner Junge, der sorglos durch die Straßen des Kabuls der 1980er tanzt. Er hat einen besonderen Platz für Jean-Claude Van Damme in seinem Herzen. Amin ist schwul, aber er hält es noch geheim. Einige Zeit später erinnert er sich an den Schock, als er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus dem vom Krieg zerrissenen Afghanistan geflohen ist, nur um mit abgelaufenen Einwanderungspapieren im desolaten, postsowjetischen Russland in der Schwebe zu hängen. Aber seine vielleicht zermürbendste Erinnerung ist die an ein Boot voller Flüchtlinge, darunter auch er selbst, die versuchen, den Finnischen Meerbusen zu überqueren. Ein Kreuzfahrtschiff taucht am Horizont auf und die Flüchtlinge jubeln in der Annahme, dass das Schiff voller wohlhabender Touristen sie retten wird. Doch ihr Jubel schlägt in Entsetzen um, als die Touristen an Deck Fotos von den Menschen in den Booten machen. Eine Durchsage kommt: Die Polizei wurde alarmiert. Die Flüchtlinge werden nach Moskau zurückgebracht.

Die Animation erweist sich als perfekter Schutzschild für Amin und als Inspiration für Rasmussen, der mit Flee in die Fußstapfen von Ari Folmans preisgekröntem Zeichentrickfilm Waltz With Bashir (2008) tritt. Animierte Dokumentarfilme sieht man selten – jedenfalls in der langen Form –, und man könnte denken, sie haben es noch schwerer mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität als „reale“ Dokumentarfilme. Doch es gibt nicht viele Filme, die authentischer und verletzlicher sind als Flee. Mehr als alles andere liegt alles in Amins Stimme. Im Atmen, in den Seufzern, dem gelegentlichen Verschlucken, wenn er sich an zurückerinnert.

Amin lebt jetzt in Dänemark, er ist erfolgreich und hat einen Freund. Der möchte gern mit ihm aufs Land ziehen, doch Amin merkt, dass ihn etwas zurückhält. Selbst jetzt strecken sich die Finger der Vergangenheit nach ihm aus. Das Trauma sitzt in den Knochen. Dennoch: Was am Ende bleibt, ist nicht der Schmerz, sondern die Hoffnung darauf, irgendwann bei sich selbst anzukommen.

Hier der ganze Film