Peak TV? Too much TV

Das Goldene Streaming-Zeitalter neigt sich offenbar dem Ende zu.

Netflix, Too Hot to Handle
Too Hot to Handle, S4, Netflix

Unsere Autorin ist nach zehn Jahren USA nach Wien zurückgekehrt. Diese Woche erscheint ihr letztes BROOKLYN BULLETIN; fortan wird sie monatlich aus der österreichischen Hauptstadt kolumnieren.

Wenn Leute herausfinden, was ich beruflich mache, fragen sie mich gerne, was sie sich ansehen sollen. Meine erste Antwort ist, mich am Kopf zu kratzen, weil wir es mit einem Schwall von „Content“ zu tun haben (ich hasse dieses Wort, aber mehr ist es oft leider nicht). Das Fernsehen ging von der Goldenen Ära der späten 1990er und 2000er, von den Sopranos, The Wire und Breaking Bad, direkt zu Peak TV über (z.B. zu dieser oder dieser Produktion). Es wurde so gut, dass jede:r mitmachen wollte, und Streaming öffnete die Schleusen nicht nur für grenzenlose kreative Freiheiten, sondern auch für eine schier überwältigende Menge an Unterhaltung. Das überfordert viele. Ganz im Sinne von Franz Kafka: „Ich bin frei, und deshalb bin ich verloren“.

John Landgraf, der FX-Chef, der 2015 den Begriff „Peak TV“ prägte, brachte es am besten auf den Punkt, als er sagte: „Es gibt einfach zu viel Fernsehen“.  Kürzlich hat er seine Theorie noch einmal bekräftigt und gemeint, dass 2022 das letzte Hurra war, der große Höhepunkt, auf den ein Rückgang folgen wird. Solange es „fünf, sechs, sieben oder acht Streaming-Dienste“ gebe, so Landgraf, könne der Rückgang „etwa 20 bis 30 Prozent“ betragen. Natürlich ist es möglich, dass Landgraf daneben liegt und selbst er gibt zu, dass es nicht das erste Mal wäre. Sicher ist jedoch, dass der aktuelle Weg des Fernsehens nicht nachhaltig ist, sowohl für die Macher als auch für uns Zuschauer.

Im Jahr 2022 hat allein das US-Fernsehen (inklusive Streaming) satte 599 geskriptete Originalserien (in englischer Sprache, für Erwachsene) produziert – ein neues Allzeithoch. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren, im Jahr 2012, als die Streaming-Revolution gerade in Gang kam, lag die Zahl bei 288. Aber bald gab es Ärger im Paradies und irgendwann war klar, dass die Ära des Kaufrausches vorbei ist. Dafür begann das Zeitalter der Streaming-Kriege.

In den vergangenen zehn Jahren haben Unternehmen wie Netflix, Disney, Amazon und Apple mit Geld regelrecht um sich geworfen, oft ohne Gewinne zu machen, um Kunden für ihre Streamer zu gewinnen. Netflix berappte allein für The Irishman mehr als 225 Millionen Dollar. Und während alle sich stritten, haben wir davon profitiert. Es gab mehr Auswahl für uns. Es war billig. Es gab keine Werbung und es gab Serien, die früher kaum je gedreht worden wären. Es war ein Segen für Kreative, die experimentieren konnten.

Das konnte nicht ewig gut gehen. Netflix verlor voriges Jahr zum ersten Mal Abonnent:innen. Die Aktien des Streamers stürzten ab und bald sahen sich auch andere Unterhaltungsunternehmen gezwungen zu reagieren. Das hat zu Projektabbrüchen, Entlassungen, steigenden Preisen, Passwort-Sharing-Verboten und billigeren Abos mit Werbung geführt. Dass Netflix Episoden von Publikumshits wie Stranger Things und You in Stapeln veröffentlicht hat (und nicht alle auf einmal wie früher), ist teilweise eine Folge von Wachstumsbedenken. Netflix möchte, dass wir über Monate hinweg angemeldet bleiben, anstatt alle neuen Folgen an einem Wochenende anzusehen und dann zu kündigen. Und neue Casting-Shows (die vor nicht allzu langer Zeit als „Unterschichtenfernsehen“ auf nachgeordneten Privatsendern galten) weisen den Weg: So sieht der Streaming-Sektor immer mehr aus wie die alte Kabel- und Rundfunkindustrie, die er verdrängt hat.

Ein Bericht von Ampere Analysis stimmt mit den Prognosen überein. Hollywood-Studios und große Streaming-Dienste reduzierten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres ihre Bestellungen von Serien für Erwachsene, die für die USA bestimmt sind, um 24 Prozent (nicht eingerechnet Big-Tech-Töchter wie Apple TV+ und Amazon Prime Video). Im Vergleich zu 2019 ist das ein Rückgang um 40 Prozent. Die Anything goes-Mentalität weicht womöglich einer Zeit der Austerität. Das goldene Zeitalter des Streamings verblasst plötzlich“ schrieb auch John Koblin von der New York Times. „Bald zahlen wir vielleicht mehr für weniger gute Optionen, denken wehmütig an die alten Tage der grenzenlosen Streaming-Binges und schauen lästige Werbung“, schrieb schon vorigen Sommer Koblins Kollegin Shira Ovide.

Wenn Produzenten in Hollywood keine Risiken mehr eingehen, dann haben wir in Zukunft vielleicht mehr Lord of the Rings und weniger I Love Dick oder mehr Bridgerton und weniger Squid Game. Aber wer weiß: Vielleicht ist es ja auch das Ende der großen Verschwendung und der Beginn neuer Qualität.