Die Oscar-Filme im Check

Die heurigen Bewerber um den Besten Film auf einen Blick – und wo man sie sehen kann.

The Power of the Dog, 2021, Jane Campion

Filmexpert:innen beschweren sich oft darüber, dass die Dinge in der „fünften“ Jahreszeit, der Oscar-Saison, langweilig oder vorhersehbar seien. Das sind sie heuer definitiv nicht. Bei den 94. Academy Awards ist zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt wieder die Maximalzahl von zehn Filmen für den Hauptpreis nominiert, und es scheint ein offenes Rennen zu sein – auch wenn es einen Favoriten gibt. Hier sind die zehn Filme, die am 27. März den Oscar für den Besten Film gewinnen könnten.

 

  1. The Power of the Dog

Manche sehen The Power of the Dog vielleicht als abgedroschenes Drama über einen Kerl, der die neue Frau seines Bruders nicht mag und deshalb rotzig wird. Aber die haben nicht aufgepasst. Der Western von Jane Campion hat Schichten und wieder Schichten auf Schichten, und je genauer man hinsieht und je mehr man darüber nachdenkt, desto besser wird er. Jeder Teil des Schauspielquartetts spiegelt einen anderen Aspekt des verdorbenen Versprechens des amerikanischen Westens wider. Campions Drama hat bereits den Golden Globe in der Satteltasche, gilt als Favorit und hat in der Oscar-Nacht die Chance, zwölf Goldbuben zu gewinnen. Es wäre der erste Gewinn in dieser Sparte für Netflix; doch schon jetzt ist die neuseeländische Filmemacherin – im Jahr 1994 für The Piano nominiert – die erste Frau in der Geschichte, die zum zweiten Mal für einen Regie-Oscar in Rede steht.

(Auf Netflix)

 

 

  1. Belfast

Während Hollywood nunmehr bereit zu sein scheint, Netflix als einen würdigen Gewinner in der Königskategorie in seine Reihen aufzunehmen, gibt es einen anderen Film, dessen Wohlfühlfaktor man nicht unterschätzen sollte. Der in Belfast geborene Schauspieler und Regisseur Kenneth Branagh nähert sich in seinem schwarz-weißen Drama Belfast seiner eigenen Kindheit aus einer rosaroten Linse mit einigen der beruhigendsten Melodien der Belfaster Legende Van Morrison. Als monochrome Memoiren hat der sechsfach nominierte Film viele Vergleiche mit Alfonso Cuaróns Roma nach sich gezogen, doch zwischen den Seelen dieser Filme liegen Welten. Für einige Leute ist die Rührseligkeit, die sich durch Belfast zieht, vielleicht zu viel, aber es feiert den lebensbejahenden menschlichen Geist, den die Academy so liebt.

(Im Kino)

 

  1. CODA

Apropos Wohlfühlen. Dieser Indie-Film der amerikanischen Regisseurin Siân Heder ist unverschämt klebrig. Es ist der Stoff, aus dem Oscar-Träume gemacht sind. Der Titel des Films CODA ist ein Akronym für „Children of Deaf Adults“, also Kinder gehörloser Erwachsener. Hier bezieht er sich auf eine Jugendliche, gespielt von Emilia Jones, die als einzige in ihrer Familie hören kann und ausgerechnet Sängerin werden will. Ihr Vater wird von Troy Kotsur gespielt, der in der Sparte Bester Nebendarsteller nominiert ist (und hoffentlich gewinnt). CODA hat die beiden wichtigsten Oscar-Gebote verpasst, die ein Film normalerweise benötigt, um den Produktions-Hauptpreis zu gewinnen: Nominierungen für Beste Regie und/oder Bester Schnitt. Aber das Herz erwärmende Drama, insgesamt für drei Oscars nominiert, schrieb Geschichte bei den Screen Actors Guild Awards als erste Besetzung von hauptsächlich gehörlosen Schauspielern, die den Preis mit nach Hause nahmen. Es könnte gewinnen.

(Flat auf Apple TV+)

 

  1. West Side Story

Viele hatten ihre Zweifel, als sie hörten, dass Steven Spielberg bei einer neuen Version von West Side Story Regie führen würde. Das Original aus dem Jahr 1961, unter der Regie von Robert Wise und Jerome Robbins, adaptiert aus dem Broadway-Musical von 1957, gilt als perfekt. Die New Yorker Romeo-und-Julia-Geschichte war nicht nur ein Kassenerfolg, sondern gewann auch zehn Oscars. Das Remake kann das mit „nur“ sieben Nominierungen nicht toppen. Außerdem gewinnen Musicals selten den Hauptpreis – zuletzt Chicago im Jahr 2003. Aber egal, ob er gewinnt oder nicht: Spielberg hat mit seinem Musical-Debüt eines der lebendigsten Werke des jüngeren Hollywood-Kinos geschaffen.

(Auf Disney+)

 

  1. King Richard

Reinaldo Marcus Greens Sportsaga King Richard ist ein Film mit einer unbeschreiblichen Geschichte: „Es ist, als würde man jemanden bitten zu glauben, dass die nächsten zwei Mozarts unter deinem Dach leben“, sagt ein ungläubiger Trainer im Film. Richard, der eifrige Vater von Venus und Serena Williams, hatte die Tenniskarriere seiner Töchter beschlossen, noch bevor sie überhaupt geboren waren. An Stellen fühlt sich der Film wie die unbedingte Will-Smith-Oscar-Fabrik an. Der Schauspieler war zwei Mal nah dran mit Ali und The Pursuit of Happiness. Obwohl es einige Kontroversen darüber gab, einen Mann in den Mittelpunkt der Erfolgsgeschichte zweier Frauen zu rücken, hat Smith gute Chancen, nun den Oscar als Bester Darsteller mit nach Hause zu nehmen. Der Hauptpreis für den fünffach nominierten Film scheint dagegen außer Reichweite.

(Im Kino)

 

  1. Dune

Vielleicht nicht der beste Film, den man auf dieser Liste findet, geschweige denn der beste Film von Denis Villeneuve, aber mit Abstand der einzige, der als Blockbuster-Kinohit gezählt werden kann. Es wäre vermessen zu sagen, dass der kanadische Regisseur versucht, mit seinen Science-Fiction-Filmen Preise zu gewinnen, aber seine kunstvollen Spektakel haben eine bessere Chance als die meisten anderen. Dune erhielt nach The Power of the Dog die meisten Nominierungen, nämlich zehn. Erstaunlicherweise wurde Villeneuve jedoch in der Kategorie „Beste Regie“ übergangen (übrigens genauso wie Maggie Gyllenhaal mit The Lost Daughter). Dune ist schillernd, frustrierend und eine beeindruckende filmische Leistung. Einige Regisseure sind vor Villeneuve an der Verfilmung des Romans von Frank Herbert gescheitert.

(Flat auf Sky, u.a.)

 

  1. Drive My Car

Der japanische Regisseur Ryûsuke Hamaguchi hat eine Kurzgeschichte von Haruki Murakami aus dem Jahr 2014 adaptiert und erweitert, aber nichts daran wirkt aufgesetzt oder in die Länge gezogen. In fünf Minuten von Drive My Car passiert mehr als in manchen Filmen insgesamt. Es ist ein Drama über Liebe und Verlust und die Art und Weise, wie Kunst einige der Enttäuschungen des Lebens heilen kann – und einige auch nicht. Die kritische Wertschätzung für den Film ist – aus filmfilter-Sicht zurecht – euphorisch. Die vier Kategorien, in denen Drive My Car nominiert ist, sind übrigens die gleichen, die Bong Joon-hos Parasite vor zwei Jahren gewonnen hat: Film, Regie, adaptiertes Drehbuch und Internationaler Film. Wenn er gewinnt, wäre er der zweite internationale Film, der nach Parasite den Oscar in der Haupt-Kategorie holt.

(Vereinzelt noch im Kino)

 

  1. Licorice Pizza

Paul Thomas Andersons Oscar-Contender spielt Anfang der 1970er Jahre im Geburtsort des Filmemachers, im kalifornischen San Fernando Valley – es ist ein sonnenverwöhnter Film, der das treibende Gefühl des Verliebens wirklich schön einfängt. Anderson und sein Ko-Kameramann Michael Bauman haben den dreifach nominierten Film auf 35 mm gedreht, was heute in Hollywood selten ist; mit Objektiven, die einst von der Legende Gordon Willis verwendet wurden, der die Godfather-Trilogie und einige von Woody Allens besten Werken gedreht hat. Aus filmfilter-Sicht ist Licorice Pizza ein Traum von einem Film. Eines von mehreren Highlights: Bradley Cooper als perverser Produzent, Promi-Friseur, Barbra Streisand-Freund und Wasserbett-Käufer Jon Peters.

(Im Kino)

 

  1. Don’t Look Up

Der vierfach nominierte Film von Oscar-Gewinner Adam McKay (The Big Short) ist vielleicht der lustigste des vergangenen Jahres. Aber zugleich der deprimierendste. Don’t Look Up ist eine bissige Satire, in deren Fadenkreuz eindeutig Politiker und jene Teile der Gesellschaft da draußen stehen, denen die Klimakrise gleichgültig ist. Das Ergebnis ist eine dissonante Komödie, die die Mischung aus Erschöpfung und Wut, die wir in den vergangenen Jahren mit uns herumgeschleppt haben, sehr gut einfängt. Man sollte für die Credits auf dem Sofa sitzen bleiben. Nicht, dass die Gewinnchancen von Don’t Look Up besonders hoch wären, aber in seiner Entlarvung der Welt, in der wir leben, polarisiert er stärker als die anderen auf dieser Liste.

(Auf Netflix)

 

  1. Nightmare Alley

Der jüngste von Guillermo del Toros Filmen ist vielleicht der erste, in dem das Übernatürliche völlig fehlt. Hier sind Magie und Geister das Produkt menschlicher Tricks (entspringen mithin der menschlichen Natur). Aber es ist schwer, sich eine Noir-Geschichte vorzustellen, die besser zu del Toro passen würde, diesem Märchenerzähler, der Männer mehr fürchtet als Monster. Nightmare Alley verbindet Horror, amerikanische Desillusionierung und die beseelte Dunkelheit, die Bradley Cooper in seinen kristallblauen Augen zu wecken vermag. Der große Preis ist wohl nicht drin (der mexikanische Regisseur durfte 2018 gleich zwei Oscars für The Shape of Water mitnehmen), aber er ist in vier Kategorien nominiert. Nightmare Alley ist der Underdog in diesem Jahr – aber was für einer.

(Im Kino und auf Disney+)