Kindergeburtstag

Retro-Kino par excellence: „Licorice Pizza“ von P.T.A. Jetzt im Kino.

Licorice Pizza, 2021, Paul Thomas Anderson

Paul Thomas Anderson fügt seinem Zeitkapselkino ein weiteres charmantes Stück hinzu: „Licorice Pizza“, ein Traum von einem Film.

Einem alten Sager zufolge gibt es nichts, was es nicht gibt. Also gibt es natürlich auch Lakritz-Pizza. Geben Sie das Wort ruhig in eine der Internet-Abgras-Maschinen ein, Sie werden fündig und belohnt werden mit Bildern des süßherben Konfekts in verschiedenster Ausprägung, schwarz bis quietschbunt und kreisrund arrangiert: Pizza eben. Zur Zeit sind diese Pizzen allerdings überall ausverkauft. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass alle Welt den neuen, zweifelsohne seltsamen Film von Paul Thomas Anderson mit der titelgebenden Seltsamkeit gebührend feiern will. Nein, wahrscheinlich hängt es doch eher mit coronabedingten Lieferengpässen zusammen. Zumal Anderson im Gespräch mit Vanity Fair den Titel des neuerlich auch von ihm selbst geschriebenen Werkes ganz prosaisch so erklärt: „Als ich aufwuchs, gab es in Südkalifornien eine Plattenladenkette namens Licorice Pizza.“

Dennoch geht nicht fehl, wer sich in Sachen Farbigkeit und Tempo unter Licorice Pizza einen Kindergeburtstag vorstellt – auf einem solchen wäre schließlich auch eine Lakritz-Pizza so recht an ihrem Platz. Neben Luftballons, Clowns und Zauberern und dem ganzen Wahnsinn eines aus dem Einerlei des Lebens herausgehobenen Tages.

So wie jener Tag des Jahres 1973 einer ist, an dem in irgendeiner Highschool im kalifornischen San Fernando Valley die Fotos für das Jahrbuch gemacht werden und der 15-jährige Gary Valentine der zehn Jahre älteren Fotografenassistentin Alana Kane begegnet. Es ist Liebe auf den ersten Blick, jedenfalls von Garys Seite aus; beziehungsweise beschließt er, dass Alana die Frau ist, die er heiraten wird; und obendrein setzt er sie davon auch sogleich in Kenntnis; worauf sie mit einer Mischung aus Amusement, Rührung und Entrüstung reagiert. Gary also – der als Kinderschauspieler reüssiert hat, nun aber allmählich herauswächst aus dem Job – weiß sofort, was er will. Alana hingegen verfolgt noch keinen ernsthaften Plan in ihrem Leben, sie lässt sich treiben und probiert aus. Siebziger eben.

Cooper Hoffman © Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.

Natürlich ist klar, dass eine erwachsene Frau kein Kind heiratet. Aber was wäre, wenn sie sich immerhin auf das vorgeschlagene Date einließe? Dies, so Anderson im erwähnten Interview, sei seine Ausgangsidee gewesen, „a sort of a screwball comedy premise“. In der Tat ist das angeschlagene Tempo recht hoch und die Narration immer aufgelegt zu wilden Schlenkern und riskanten Manövern. Für sein Drehbuch griff Anderson auf anekdotische Erinnerungen seines Produzentenfreundes – und vormaligen Kinderschauspielers – Gary Goetzman zurück. Was wiederum Bradley Cooper, Sean Penn und Tom Waits, die kleine Rollen als Hollywood-Größen übernommen haben, Gelegenheit für völlig enthemmte Darbietungen gibt, die obendrein noch wahr sein könnten.

Mittendrin und sozusagen im Auge des Sturms, zwei Newcomer: Cooper Hoffman (Sohn des viel zu früh verstorbenen Anderson-Regulars Philip Seymour Hoffman) in der Rolle von Gary trifft auf Alana Haim (eine der drei Schwestern vom Rock-Trio Haim) in der Rolle von Alana. Keine:r der beiden verströmt Filmstar-Glamour oder passt ins Schema dessen, was in der US-amerikanischen Filmindustrie als „schön“ oder „ideal“ gilt. Stattdessen schiefe Nase hier und Pickel dort sowie unvorteilhafte Haarschnitte und ungünstig verteilte Pfunde. Angesichts dessen können die standardisierten Erwartungen an das Aussehen des Erfolges packen gehen. Eben deswegen schaut man Hoffman und Haim auch so gerne zu. Sie sehen aus wie Du und ich, nur halt jünger, und sind daher absolut glaubwürdig.

Alana Haim © Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.

Mit Licorice Pizza kehrt Anderson nicht nur zurück in sein natürliches Habitat, das San Fernando Valley, in dem er selbst in den 1970er Jahren aufgewachsen ist. Es gelingt ihm außerdem neuerlich ein Film, der zugleich an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Moment fest verwurzelt ist, der also das Kolorit und die Atmosphäre wie in einer Zeitkapsel einfängt – und doch zugleich nicht von dieser Welt zu sein scheint. Der abhebt wie ein Raumschiff auf der Suche nach den unendlichen Weiten. Oder sich befreit aus lakritzklebrigen Händen, wie ein Luftballon auf einem Kindergeburtstag.

 

Licorice Pizza
USA 2021, Regie & Drehbuch Paul Thomas Anderson
Mit Alana Haim, Cooper Hoffman, Sean Penn, Tom Waits, Bradley Cooper
Laufzeit 133 Minuten