20.000 Arten von Bienen

Eindrucksvolles Geschlechtsidentitätsdrama – im Kino

Sofía Otero
20.000 Arten von Bienen, 2023, Estibaliz Urresola Solaguren

 „20.000 Arten von Bienen“: Das Langfilmdebüt der spanischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren beschäftigt sich auf eindrucksvolle Weise mit Geschlechtsidentitätsproblemen der Adoleszenz im Konflikt mit gesellschaftlich-familiären Normen.

Filme über Kinder oder Jugendliche auf der Suche nach ihrer Geschlechtsidentität haben eine kleine Konjunktur. Zuletzt Oskars Kleid, in der Form eines deutschen, freundlichen Familiendramas. Wesentlich drastischer vor bereits über zwanzig Jahren in Boys don’t cry oder mit XXY von 2009, einem der wenigen Filme, der von Intersexualität erzählt. Céline Sciammas Tomboy (hier unser Blick auf ihr Werk) kommt dem, was Estibaliz Urresola Solagurens Langfilmdebüt 20.000 Arten von Bienen versucht, am nächsten: Der Mikrokosmos Familie steht im Zentrum, und die Bilder und Dialoge handeln auch davon, wie gesellschaftlicher Druck auf die Familie einwirkt, die – in beiden Filmen über die Mutter vermittelt – lernen muss, damit umzugehen, wenn ein Kind erfolgreich versucht, sich starren Geschlechternormen zu entziehen.

Meist fungieren die Eltern, auch wenn sie es gut meinen, als Instanzen der Repression, im Versuch, das Kind wieder in die gendernormierte Spur zu bringen – aus Sorge oder aus unschöneren Beweggründen. 20.000 Arten von Bienen lässt es so komplex werden, wie es oftmals wohl ist, und geht in der weitgehenden Reduktion auf den Familienkosmos (noch) näher ran, als zum Beispiel Céline Sciamma in ihrem Film. Die Mutter (Patricia López Arnaiz) der achtjährigen Lucia (Sofía Otero) will ihr Kind ohne Gender-Schubladen erziehen. Lucia, die von ihren Eltern als Junge Aitor genannt wurde und zu Beginn des Films den geschlechtsneutralen Spitznamen Coco trägt, will ein Mädchen sein, in einem Körper, der von ihrer Umwelt als der Körper eines Jungen gesehen und bewertet wird.

20.000 Arten von Bienen, Solaguren

In einem Drei-Generationen-Dreieck (Tochter, Mutter, Großmutter, Tante) entfaltet sich eine Erzählung über drei oder vier Frauen*, die alle mit der gleichen Komplexität bedacht werden. Der Fokus aber liegt auf dem Kind, das von Sofía Otero mit einer leisen Intensität gespielt wird, für die sie auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Auch wenn einem derartige Filmpreise grundsätzlich egal sein können: Das ist schon sehr schön, die jüngste Preisträgerin in der Geschichte des Festivals zu sein.

Lucia weiß nicht genau, was los ist mit ihr. Sie nimmt wahr, dass die Menschen um sie herum offenbar genau wissen, wer sie sind – Junge oder Mädchen, Mann oder Frau. Der Konflikt mit der Mutter entzündet sich am Konflikt zwischen Liberalität und Kindeswillen: Die Mutter will ohne Schubladen erziehen, das Kind will sehr wohl eine Schublade, spürt aber, dass diese Schublade nach dem Willen und den Vorstellungen und Normen der Menschen um sie herum nicht ihre sein darf. Spätestens dann, wenn es um Repräsentation geht. „Zu Hause ist eine Sache“, räsoniert Aitors/Lucias Vater etwas ratlos. „Aber ein Kleid! – Da, wo es alle sehen können?“

Dass dieser sehr ruhige und konzentrierte Film es sich dabei nicht einfach macht, im Sinne von schablonenhaft, ist eine seiner größten Qualitäten. Die Konflikte werden nicht dramatisch, aber natürlich sind sie es eigentlich doch – dramatisch. Oder eben: existenziell.

Wie 20.000 Arten von Bienen überhaupt sehr wenig Aufhebens um seine Geschichte macht. Vielleicht lässt letztere sich deswegen so gut auf das Erfahrungswissen und damit auf die Erinnerung auch von Zuschauerinnen und Zuschauern übertragen, die ihre Geschlechtsidentität bruchlos übernehmen konnten, obwohl diese für sie vordefiniert wurde. Die Frage, wer ich eigentlich bin und was bleibt, wenn ich mich mit dem Blick der anderen nicht mehr identifiziere bzw. von ihm zehre, ist eine zentrale, in der Adoleszenz und darüber hinaus. Eigentlich handeln alle genannten Filme und 20.000 Arten von Bienen vorneweg nicht nur von Transgeschlechtlichkeit, sondern eben auch genau davon: wer man ist, wer man sein möchte, was die, die einen lieben, in einem sehen. Und warum darüber hinaus der Blick aller anderen und natürlich auch und gerade der Blick derer, die einen lieben, so prägend und zerstörerisch sein kann.

 

20.000 Arten von Bienen / 20.000 especies de abejas
Spanien 2023, Regie Estibaliz Urresola Solaguren
Mit Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain
Laufzeit 125 Minuten