Gerechtwerden

Der neue Hamaguchi – im Kino

Hamaguchi, Nishikawa, Evil Does Not Exist
Evil Does Not Exist, 2023, Ryusuke Hamaguchi

„Evil Does Not Exist“: das nächste zeitempfindliche Filmgeschenk von Ryusuke Hamaguchi.  

Es klingt floskelhaft, aber in diesem Fall stimmt es nun einmal: Die Filme von Ryusuke Hamaguchi fühlen sich an, als sei in ihnen die Zeit außer Kraft gesetzt. Oder elaborierter: Hamaguchi gelingt in und mit seinen Montagen, ein vom Normalfall abweichendes Zeitempfinden herzustellen. Beziehungsweise besser: zu ermöglichen. Denn man muss als Zuschauer:in natürlich mitarbeiten und sich auf die, jetzt wird es ganz hochgestochen, Zeitlichkeit dieser Filme einlassen. Hamaguchis voriger Film Drive My Car etwa dauerte fast drei Stunden, fühlte sich aber an wie anderthalb. Es ging unter anderem um Sprache, Schauspielerei, das Einüben von Texten und so ganz grundlegende, existenzielle Fragen nach Liebe, Lüge und Vertrauen. Obwohl sich alle, die Kamera, das Skript, die Schauspielerinnen und Schauspieler, viel Zeit nahmen, verging sie, wie man so sagt, wie im Flug.

Jetzt geht die Kamera in die Natur. In Evil Does Not Exist verabschiedet Hamaguchi das gesprochene Wort als ersten Träger von Bedeutung. Der Film beginnt mit einer minutenlangen Kamerafahrt unter Baumkronen entlang. Damit nimmt der Blick, es ist hier der Blick eines kleinen Mädchens, vorweg, was die Städter in dieser Geschichte erst lernen müssen. Dass es nämlich Zeit braucht, um der Natur gerecht zu werden. Gerechtwerden im Sinne eines möglichen Lebens in und mit ihr.

Die Geschichte geht so: Eine regulär rücksichtslose Firma aus Tokio will in ein weitgehend unberührtes Waldgebiet ein Naherholungsareal für Touristen stellen, inklusive schlecht konzipierter Kläranlage. Am Waldrand lebt der Witwer Takumi (Hitoshi Omika), der sich um den Wald, seine achtjährige Tochter Hana (Ryo Nishikawa) und alle kleinen Arbeiten kümmert, die in der kleinen Gemeinde anfallen. Eine Vertreterin und ein Vertreter der Firma, Takahashi (Ryuji Kosaka) und Mayuzumi (Ayaka Shibutani), die eigentlich was mit Consulting machen, fahren in das Dorf, um die Bewohner:innen auf das Projekt einzuschwören. Takahashi merkt im Kontakt mit den Landmenschen, wie entfremdet sein Leben ist, es zieht ihn aufs Land.

Bis zu diesem Punkt hätte Evil Does Not Exist eine anrührende Erzählung über die Selbstfindung eines still verzweifelten Menschen in der Natur sein können (und drei Jahre später dann möglicherweise ein US-Remake, zum Beispiel mit Matt Damon in der Hauptrolle, als Takumi). Ryusuke Hamaguchi wählt einen anderen Weg, den man allerdings hier nicht zusammenfassen kann, ohne zu spoilern. Jemand verschwindet, dann passiert das Letzte, womit man gerechnet hätte.

Aber auch bis zu diesem so still wie nachhaltig irritierenden „final twist“ ist Evil Does Not Exist eine bewusst spröde Angelegenheit. Die Naturbilder sind wunderschön, aber nicht einladend. Und die Grenzen, die die Dorfbewohner den Investoren aus der Stadt ziehen, werden nicht nur verbal, auf dem Treffen mit Takahashi und Mayuzumi gesetzt, sondern sind in diesen Bildern einer weitgehend unberührten Natur bereits enthalten.

Hamaguchis neuer Film hat etwas ausgesprochen Meditatives; damit er das Zeitempfinden seines Publikums bearbeiten kann, muss man die Zeit und die Ruhe mitbringen. Zugleich aber ist auch Evil Does Not Exist in jeder Einstellung und vor allem im Zusammenspiel der einzelnen Szenen – immer wieder wird etwas angetippt, was dann später erst ausgespielt wird – streng durchkonzeptioniert. Wer sich auf dieses zum einen ästhetisch schöne, zum anderen auch grausame filmische Philosophieren einlässt, wird reich beschenkt.

 

Evil Does Not Exist
Japan 2023, Regie Ryusuke Hamaguchi
Mit Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ryuji Kosaka, Ayaka Shibutani
Laufzeit 106 Minuten