Routinier sans routine

Sidney-Lumet-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum

Lumet, Williams, Prince of the City
Prince of the City, 1981, Sidney Lumet, Foto: ÖFM

While the goal of all movies is to entertain, the kind of film in which I believe goes one step further. It compels the spectator to examine one facet or another of his own conscience. It stimulates thought and sets the mental juices flowing. (Sidney Lumet)

Zwar wurde Sidney Arthur Lumet am 25. Juni 1924 in Philadelphia, Pennsylvania, geboren; aufgewachsen – und auch im übertragenen Sinne groß geworden – ist er dann aber an der Lower East Side von Manhattan, New York City – jener Stadt, die er später in seinen Filmen in ihrem ganzen Glanz und Elend auf so unvergleichlich treffsichere Weise porträtieren würde. Der Sohn polnischstämmiger Juden – des Schauspielers und Rundfunkautors Baruch Lumet und der Schauspielerin und Tänzerin Eugenia, geborene Wermus, die früh sterben sollte – betrat die Bühne des Yiddish Art Theater, an dem seine Eltern tätig waren, bereits als Steppke. Und er stand mehr als nur am Beginn einer vielversprechenden Laufbahn als Schauspieler am Broadway, als der Zweite Weltkrieg ihn nach Indien und Burma verschlug, wo er als Radartechniker eingesetzt war. Zurückgekehrt gründete und leitete Lumet eine Off-Broadway-Theatertruppe, wechselte dann jedoch bald zum Fernsehen und arbeitete als Regieassistent und später Regisseur an unzähligen Live-TV-Sendungen mit. Er hat sein Handwerk also von der Pieke auf gelernt, ein reiner Handwerker war er nicht.

Sidney Lumets erster Kinospielfilm gilt als der Inbegriff des fulminanten Debüts: 12 Angry Men (1958, nach einem Fernsehspiel von Reginald Rose), ein Lehrstück in klaustrophobischer Hochspannung, wurde beim Filmfestival in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet und erhielt drei Oscar-Nominierungen. Wie in einer Nussschale sind in diesem Mitvollzug der schwierigen Urteilsfindung einer Jury aus zwölf weißen Männern, die über Schuld oder Unschuld eines puertoricanischen Jugendlichen zu befinden haben, jene Themen und Motive versammelt, die Lumet sein Leben lang umtreiben werden: Einer gegen Viele; wortreiche Auseinandersetzungen in Innenräumen; Kampf um Wahrheit und Integrität; Korrumpierbarkeit und Machtmissbrauch; Moral, Grauzonen und das Böse; aus Eitelkeit geborene Selbstüberschätzung; dramatische Konfliktzuspitzung in Korrelation mit psych(ot)ischer Verdichtung und schließlicher Eskalation/Katharsis – sowie eine meisterliche Beherrschung der filmischen Mittel Montage, Kadrierung, szenische Auflösung, Kameraführung und Einsatz von Objektiven.

Die zwölf Geschworenen, Sidney Lumet, Henry Fonda
12 Angry Men, 1957, Sidney Lumet, Foto: ÖFM

Eben diese handwerkliche Meisterschaft war es, die es Lumet ermöglichte, aus einer drohend drögen Angelegenheit wie einem ausgiebigen Dialog in einem unaufregenden Raum einen auch visuell mindestens interessanten, meist aber sogar fesselnden Vorgang zu machen. Den Wagemut, mit dem er dabei mitunter zu Werke ging, mag der Ausklang von A Long Day’s Journey into Night (1962, nach dem Theaterstück von Eugene O’Neil) illustrieren: Am nachtschwarzen Ende des Films, wenn die im Laufe des langen Tages wieder in die Drogensucht abgerutschte Mutter im Kreise ihrer betrunkenen Männer (der Gatte und die beiden Söhne) am Tisch sitzt und sich wehmütig in nostalgisch verklärten Erinnerungen ergeht, entfernt sich allmählich die Kamera und zieht mit ihr der Blick sich zurück. Bis die Gruppe am Tisch schließlich nur noch als ein kleinwinziges Grüppchen, als Lichtfleckchen rechts unten im rabengeschwärzten Kader erscheint. Nur um dann mit einem schockierend wirkenden Schnitt das Gesicht der Frau in Großaufnahme zu zeigen – und sie redet, als gälte es ihr Leben –, sodann die erschöpften Gesichter der Männer, und daraufhin wieder zurück in die bereits gefundene Distanz zu gehen. Ein technischer Kunstgriff, der mehr über die Gefangenschaft der Menschen in einer von ihnen selbst geschaffenen und ewig sich perpetuierenden (Familien-)Hölle aussagt als seitenweise Dialog (von dem wir in den vorangegangenen knapp drei Stunden ja auch nicht eben wenig gehört haben, hochkarätig dargeboten). Zugleich eine Reminiszenz an die Bühnen-Abkunft des Stoffes: ein letztes Mal werden die Gesichter der Schauspieler gezeigt, als wäre dies eine Verbeugung vor dem Vorhang, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen. Katherine Hepburn brachte der fulminante Auftritt als vom Patriarchat in die Selbstzerstörung getriebene Ehefrau und Mutter eine Oscar-Nominierung ein. In Cannes wurde das gesamte Ensemble – Hepburn, Ralph Richardson, Jason Robards und Dean Stockwell – mit den Schauspiel-Preisen ausgezeichnet.

Brando, Lumet am Set von The Fugitive Kind
Marlon Brando und Sidney Lumet am Set von The Fugitive Kind, 1960, Foto: ÖFM

Im Laufe seiner langen Karriere hat Lumet über vierzig Filme fürs Kino gedreht und dabei darauf verzichtet, sich auf ein oder mehrere Genres besonders zu spezialisieren. Er adaptierte Theaterstücke, Romane, Erzählungen und wahre Begebenheiten, er drehte Krimis, Gerichts- und Polizeifilme, Familien- und Liebesdramen, Melodramen, Thriller, Mystery, Action, Tragödie, Historie und Psychohorror. Er arbeitete schnell und effektiv und überzog weder Budget noch Drehplan; man lernt das beim Fernsehen. Und beim Theater lernte Lumet, wie wichtig Proben sind. Zu seiner Methode gehörte eine etwa zweiwöchige Probenphase vor Beginn der Dreharbeiten, in der die Schauspieler:innen gemeinsam das Buch erarbeiten. Dazu plante Lumet zusammen mit dem Kameramann (bevorzugt arbeitete er mit Andrzej Bartkowiak) die Choreografie der Szenen. Beim Drehen brauchte er dann oft nur wenige Takes, bis er im Kasten hatte, was er wollte; Paul Newman gab ihm den Spitznamen „Speedy Gonzales“. In The Verdict (1982, nach dem Roman von Barry Reed) spielt Newman einen versoffenen Anwalt, der es noch einmal wissen und bei dieser Gelegenheit vor allem sich selbst rehabilitieren will. Er gehört übrigens zu nicht weniger als 17 Schauspieler:innen, die ihrer Rolle in einem Lumet-Film eine Oscar-Nominierung verdanken. Der Regisseur selbst, der auf fünf Nominierungen verweisen konnte und dessen Filme in unterschiedlichen Kategorien unzählige Male nominiert waren, erhielt den Academy Award endlich 2005 in Gestalt eines Ehrenoscars für sein Lebenswerk – was er ohne falsche Bescheidenheit mit den Worten kommentierte: „I wanted one, damn it, and I felt I deserved one.“

Lumet, Newman, The Verdict
The Verdict, 1982, Sidney Lumet, Foto: Park Circus

Eingedenk unbestrittener Juwelen, die auf sein Konto gehen, und ohne die die Filmgeschichte ärmer wäre, kann man da nur zustimmen. Um einige zu nennen: Fail Safe (1964, nach dem Roman von Eugene Burdick und Harvey Wheeler), in dem Henry Fonda als dauertelefonierender US-Präsident um atomare Schadensbegrenzung ringt – das bitterbös bierernste Gegenstück zu Stanley Kubricks Kalter-Krieg-Satire Dr. Strangelove…, der im selben Jahr in die Kinos kam. Dog Day Afternoon (1975, nach einer wahren Begebenheit), in dem Al Pacino die buchstäblich überhitzte Verzweiflungstat eines Bankräubers plausibel macht, während neben ihm John Cazale seine Figur heimlich, still und leise entzwei gehen lässt. Network, der 1976 die skrupellosen und tief zynischen Ausbeutungsmechanismen des Privatfernsehens aufs Korn nimmt und mitten ins Schwarze triff; und der heute, da die daran Beteiligten alt oder tot sind, beunruhigenderweise kein bisschen weniger topaktuell wirkt. The Pawnbroker (1964, nach dem Roman von Edward Lewis Wallant), in dem Rod Steiger in der Titelrolle – ein Holocaust-Überlebender, der sich in seiner Pfandleihe in Spanish Harlem, Manhattan, seinen Erinnerungen zu entziehen sucht, freilich vergeblich – einen schauspielerischen Karrierehöhepunkt setzt. The Hill (1965, nach dem Theaterstück von Ray Rigby), der die sadistischen Gebräuche in einem britischen Lager für Deserteure und andere Straffällige in Nordafrika während des Zweiten Weltkriegs schildert, und in dem Sean Connery sein James-Bond-Image pulverisiert.

Lumet, Finch, Dunaway, Network
Network, 1976, Sidney Lumet, Foto: Park Circus

Nicht zu vergessen die mehreren Meilensteine, die Lumet mit seinen New Yorker Polizeifilmen setzt. Deren Gegenstand zum einen die großen Korruptionsskandale sind, die New Yorks Finest seinerzeit erschütterten. Und die sich zum anderen mit jenen Figuren und Strukturen beschäftigen – etwa dem rassistischen Rogue Cop oder dem längst schon ausverkauften Justizsystem –, die die Voraussetzung dieser Skandale darstellen. Serpico (1973, nach der Biografie von Peter Maas), in dem Al Pacino als titelgebender, allmählich verzweifelnder Undercover-Cop reichlich Gelegenheit erhält, seinem Affen Zucker zu geben. Prince of the City (1981, nach dem Sachbuch von Robert Daley), ein Drei-Stunden-Epos und die Studie eines hysterischen Mannes zwischen Eitelkeit und Erlösungshoffnung, ohne sich zu schonen geliefert von Treat Williams. Q & A (1990, nach dem Roman von Edwin Torres), darin Nick Nolte als entfesselter Macho-Cop mit Mega-Ego zu dämonischer Hochform aufläuft. Schließlich Night Falls On Manhattan (1997, nach dem Roman von Robert Daley), der Andy García in der Rolle eines Staatsanwaltes in Gewissensnöten zeigt, aufgerieben zwischen Pest und Cholera, die hier Berufsethos und Blutsbande heißen.

Before the Devil Knows You’re Dead, Sidney Lumet
Before the Devil Knows You’re Dead, 2007, Sidney Lumet, Foto: ÖFM

Nicht unter den Tisch fallen soll an dieser Stelle auch der erfreulich ungewöhnliche Equus (1977, nach dem Theaterstück von Peter Shaffer). Das Psychodrama handelt von Alan Strang (Peter Firth), einem jungen Mann, der sich einen Pferdegott konstruiert, sich selbst als Centaur imaginiert und während nächtlicher Ausritte sexuelle Stimulation erfährt. Wenig überraschend, dass er, als sich erstmals die Gelegenheit mit einem Mädchen bietet, keinen hochkriegt. Dieses Versagen muss sodann sein erfundener Gott schwer büßen. Hm? Echt jetzt? Das Grinsen vergeht einem ebenso schnell, wie Jugendpsychiater Dr. Martin Dysart (Richard Burton, von Tabak und Alkohol gezeichnet und in seiner zunehmenden Verzweiflung dementsprechend furios) die Sache psychoanalytisch aufschlüsselt und in ihrer ganzen fundamentalen Tragik, frontal in die Kamera sprechend, dem Publikum einschraubt. Equus nämlich ist als Kritik am zivilisatorischen Prozess zu verstehen, als Beschreibung des mit Vergesellschaftung einhergehenden Verlustes der Ganzheitlichkeit. Die Domestizierung der Fantasie, der Tod der Ekstase, sie sind der Preis, den wir zahlen, um dazuzugehören. Man kann es auch Entfremdung nennen.

2007 beendet Sidney Lumet – der am 9. April 2011 im Alter von 86 Jahren in New York City stirbt – seine Karriere, wie er sie begonnen hat: fulminant! Mit Before the Devil Knows You’re Dead, der Geschichte eines fehlgeschlagenen Raubüberfalls, die sich zu einer Familientragödie von antiker Wucht entwickelt; von der herausragenden Besetzung – Albert Finney, Philip Seymour Hoffman, Ethan Hawke und Marisa Tomei – zudem zur Charakterstudie angereichert.

Das Filmmuseum in Wien zeigt nun eine Auswahl von Highlights aus Sidney Lumets umfangreichem Schaffen. Zu deren unbedingt empfohlenem Besuch flankierend sich die Lektüre eines schön gestalteten Buches eignet: „The Real Eighties. Amerikanisches Kino der Achtzigerjahre: Ein Lexikon“, herausgegeben von Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky, erschienen 2018. Dieser selbsterklärte „Versuch zur Rettung des historischen Möglichkeitssinns“, in dessen Zentrum „Spielarten eines unreinen Realismus“ stehen, erkennt in den 1980er Jahren ein „zu Unrecht verfemtes Kinojahrzehnt“ und trachtet nach dessen Rehabilitierung. Mit der Hilfe von Texten unter anderem von bereits verstorbenen Recken der Filmkritik – also aus einer Zeit, als diese noch nicht zu einem „Marketing-Tool“ verkommen war – wie Frieda Grafe, Hans Schifferle, Michael Althen und Brigitte Desalm. Texten über Schauspieler:innen – Tom Cruise, Mickey Rourke, Debra Winger u.a. –, über Regisseure – z.B. Michael Mann, Tony Scott, Jonathan Demme und keine Frau –, übergreifende Themen wie Whiteness, Teen Movies, Country oder VHS sowie herausragende Filme der Dekade wie Cruising (William Friedkin, 1980), Love Streams (John Cassavetes, 1984) und Running On Empty, den Sidney Lumet 1988 mit dem früh verloschenen River Phoenix drehte (– und auf dem Christian Petzold 2000 Die Innere Sicherheit würde fußen lassen). Des Weiteren schuf Lumet in den Achtzigern u.a. die oben erwähnten Prince of the City (1981) und The Verdict (1982) sowie The Morning After (1986), in dem Jane Fonda eine abgehalfterte Aktrice gibt, die eines Morgens mit einem Filmriss erwacht. Unnötig zu sagen: ein böses Erwachen! Ebenso selbstverständlich: ein sehenswertes! Es ist dies im Übrigen der einzige Film, den Lumet in Los Angeles gedreht hat – das hier als veritable Albtraumfabrik erscheint.

Lumet, Fonda, The Morning After
The Morning After, 1986, Sidney Lumet
Bis 19. Oktober im Österreichischen Filmmuseum