Der Filmgeschichtsschreiber

Lobeshymne auf Martin Scorsese zum Achtziger

Setfoto Martin Scorsese
Martin Scorsese am Set von Shutter Island, 2010

Der Meister, der Schüler ist einer Kunst, die das Kino ist: Martin Scorsese wird achtzig. Das Österreichische Filmmuseum gratuliert seinem Ehrenpräsidenten mit einer umfassenden Retrospektive, filmfilter-Autorin Alexandra Seitz singt ihm ein Loblied.

 

Ikonische Bilder: God’s lonely man, der eine der schmutzigen Straßen entlang geht, die er gereinigt sehen möchte. Jake La Mottas Blut, das schwarz von den Seilen des Boxrings tropft. Jesus, der sich am Kreuz ein ganz normales Familienleben fantasiert. Der Wolf of Wall Street, wie er sich wie ein Wurm ein paar Stufen hinunterwindet, die sich in die Unendlichkeit erstrecken. Die Edelhure, die im Casino lachend die Jetons in die Luft wirft. Bill the Butcher und Priest Vallon, die es an einem kalten Wintertag ausfechten, bis der Schnee geschmolzen und aus Weiß Rot geworden ist; zu Gemetzel erklingt schwungvolle Popmusik.

Nicht minder unvergesslich die Wutausbrüche der Figuren des Joe Pesci, den man in Folge nie mehr anders als mit einem gewissen Misstrauen und leichter Beunruhigung auftauchen sieht. Hat er einen Kugelschreiber in der Hand? Ist irgendwo ein Ohr in der Nähe? Im Grunde auch nicht besser in Sachen Impulskontrolle sind die Figuren seines Kollegen Robert De Niro, nur simmern die deutlich länger vor sich hin, bis sie, mit nicht geringerer Wucht, explodieren. Hingegen Leonardo DiCaprio es weniger mit fast schon karikaturistisch gezeichneten Genre-Gestalten zu tun hat als vielmehr mit leidenschaftlich getriebenen, sturschädelig verbohrten Charakteren, die etwas humaner wirken und unserer Empathie würdiger scheinen. Wie unter allen Umständen auch jene von Harvey Keitel mit sich selbst nicht schonender Konsequenz porträtierten armen Würstel, die scheinheilig und kriecherisch den Typus der niederen Ganovencharge auf den Punkt bringen.

Casino, Robert DeNiro
Casino, 1995, Martin Scorsese

„It could have been perfect … and then we fucked it all up.“

___STEADY_PAYWALL___Ace Rothstein spricht diesen Satz im Voiceover von Casino, als er die mafiöse Geldscheffelstruktur beschreibt, die die Spielbetriebe im Las Vegas der 1970er Jahre bestimmte. In jenem Satz steckt aber nicht nur das in den Filmen von Martin Scorsese sich stetig wiederholende Muster von Aufstieg und Fall einer Figur, sondern auch die Feststellung der Eigenverantwortung des Aufgestiegenen für eben diesen ihren Fall. Scorseses „Helden“ sind keine unschuldigen Opfer unglücklicher Umstände – nicht einmal Jesus von Nazareth in The Last Temptation of Christ ist das, der immerhin einen Auftrag von ganz oben hat, mit dem er doch hadert bis zum bitteren Ende –, sie sind vielmehr ohnmächtig, ihre Triebe und Impulse rational zu fassen und zu sublimieren. Und so sind es die Gier, die Eifersucht, die Rachsucht, die Lust an der Gewalt, das falsch verstandene Ehrgefühl, und wieder die Gier, und wieder die Eifersucht, die sie in den Abgrund führen. Darinnen sitzen sie dann, zum Kleinbürger geschrumpft wie Henry Hill am Schluss von Goodfellas, oder aus der Fasson geraten wie Jake La Motta am Schluss von Raging Bull; und sie führen, von keinerlei Unrechtsbewusstsein getrübt, Klage gegen widrig gesonnene Schicksalsmächte; und sie prahlen von den gloriosen Tagen, als sie Monster waren; und der Filmemacher, der keine Berührungsangst kennt, setzt sie in Bilder, setzt ihnen denkwürdige Mäler, die nichts beschönigen. Denn er ist unter ihnen aufgewachsen.

 

Verhinderter Priester, missionarischer Filmbewahrer

Geboren wurde Martin Scorsese am 17. November 1942 zwar im New Yorker Borough Queens, doch noch vor seiner Einschulung übersiedelten seine italienischstämmigen Eltern – beider Familien wurzeln in der Provinz Palermo auf Sizilien – mit ihm nach Little Italy, Manhattan; dort ist Marty groß geworden. Weil er ein asthmatisches Kind war und oft das Bett hüten musste, hatte er Zeit genug, das Treiben auf den Straßen zu beobachten. Mitmischen konnte er ja nicht bei den ruppigen Spielen der Burschen, die den Machismo probten, und vielleicht war er auch froh drüber. Und weil er einen geradezu kinosüchtigen Vater hatte, der den Sohn immerzu mitnahm in die Lichtspielhäuser, prägten ihn die Filme der Vierziger und Fünfziger Jahre, die düsteren Gangster- und Polizeifilme, die Film noirs. Und obwohl er eine Zeitlang katholischer Priester hatte werden wollen, ja sogar das Seminar besuchte, landete er schließlich doch an der Filmschule und lernte nun noch das europäische Kino kennen, das ihn nachhaltig beeindruckte. Und dann wurde er im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zu einem der wahrhaft bedeutenden US-amerikanischen Filmemacher. Scorsese wurde aber nicht nur einer, der als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent vielfach reüssierte, sondern auch einer, der sich als Mitgründer dreier bedeutender Stiftungen um die Bewahrung des Filmerbes, um dessen Sicherung und Restaurierung verdient macht.

Da ist zunächst „The Film Foundation“, die sich in Kollaboration mit Filmstudios um die Restaurierung alter und/oder beschädigter Filmkopien bemüht, und die seit ihrer Gründung 1990 über 800 Filme aus der ganzen Welt in einen neuerlich zeigbaren Zustand versetzt hat. Sodann „The World Cinema Project“, das sich seit 2007 dezidiert um die Rettung und Präsentation marginalisierter und selten gezeigter Filme aus jenen Weltregionen kümmert, deren Ressourcen zur Pflege der eigenen Filmgeschichte arg begrenzt sind; unter den solcherart wieder zugänglich gemachten respektive der Nachwelt erhaltenen Werken befinden sich beispielsweise The Housemaid (Kim Ki-young, 1960), ein Klassiker des koreanischen Kinos, sowie das Regiedebüt von Apichatpong Weerasethakul, Mysterious Object at Noon, das 2000 den Startschuss des unabhängigen thailändischen Films setzte. Und schließlich „The African Film Heritage“ Project, das es sich 2017 zum Ziel gesetzt hat, 50 Klassiker des afrikanischen Films, die als verschollen oder irreparabel beschädigt gelten, zu suchen, zu finden, wiederherzustellen – in der Hoffnung, sie endlich einem interessierten Publikum weltweit präsentieren zu können.

Und jenen, die einmal wieder so richtig Lust auf Kino bekommen wollen oder die gern ein paar neue Anregungen hätten oder die vielleicht auch einfach ihren Horizont erweitern möchten, seien die beiden Dokumentarfilme ans Herz gelegt, in denen Scorsese ungeheuer kenntnisreich und mitreißend leidenschaftlich durch die US-amerikanische sowie die italienische Filmgeschichte führt: A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies (1995) und Il mio viaggio in Italia (1999) zählen zweifelsohne zum Unterhaltsamsten, was Filmvermittlung zu bieten hat.

Nicht eben unbeträchtlich sind auch Martin Scorseses Verdienste um den Musik-Dokumentarfilm. Er ist – gemeinsam mit Thelma Schoonmaker, die die Schnittmeisterin seiner Filme werden wird – als Second Unit Director und Editor an Woodstock beteiligt, Michael Wadleighs immer wieder sehenswerter Dokumentation der legendären „3 Days of Peace & Music“. Er dreht mit The Last Waltz einen Meilenstein des Konzertfilms, der den Special-Guests-gespickten letzten Auftritt von The Band am 25. November 1976 im Winterland Ballroom in San Francisco zeigt und mit der Bandgeschichte zugleich eine ganze Epoche zeit- wie musikhistorisch verortet. Er legt mit No Direction Home: Bob Dylan ein profundes Porträt des notorisch schwierigen Singersongwriters vor und er hetzt im New Yorker Beacon Theatre jener Band hinterher, die mit mindestens einem Song in so ziemlich jedem seiner Filme zu Gehör gebracht wird; Shine a Light entstand 2006 im Rahmen der „A Bigger Bang Tour“ der Rolling Stones. Nicht zu vergessen die 2003 von Scorsese produzierte, siebenteilige Dokumentarfilmreihe The Blues, die sich der Geschichte des titelgebenden Musikgenres widmet, und zu der unter anderem Charles Burnett und Clint Eastwood Episoden beigesteuert haben; Scorsese selbst lieferte mit Feel Like Going Home den Auftaktfilm zum Thema Delta Blues.

 

Kinematografisches Querfeldeindenken

169 Auszeichnungen (bei 283 Nominierungen) verzeichnet die Internet Movie Database für Martin Scorsese; darunter die Goldene Palme, die ihm Taxi Driver 1976 in Cannes einbringt, den Silbernen Regie-Löwen, mit dem er 1990 in Venedig für Goodfellas ausgezeichnet wird, sowie den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk, den er ebendort 1995 erhält. Auf einen Regie-Oscar allerdings muss Scorsese, obwohl insgesamt neun Mal für einen solchen nominiert, sehr lange warten; schließlich, da ist er nach aller Überzeugung längst schon überfällig, erhält er ihn 2007 für The Departed. Seine virtuose Studie der Verflechtungen von irischen Gangstern und Polizei in Boston ist ein rasantes Remake der ziemlich komplizierten Infernal Affairs-Trilogie von Andrew Lau und Alan Mak (Hongkong, 2002/2003).

Taxi Driver, DeNiro
Taxi Driver, 1976, Martin Scorsese

Im Begleitheft zur Retrospektive von Martin Scorseses Werk, die im Filmmuseum Wien im Rahmen der Viennale 1995 stattfand, fand deren seinerzeitiger Direktor Alexander Horwath in seinem Vorwort für dessen Schaffen den schönen Begriff des „kinematografischen Querfeldeindenkens“ und schrieb: „Wenn D.W. Griffith und John Ford für ‚klassische‘ Formen der Vollendung im amerikanischen Kino stehen und Erich von Stroheim bzw. Orson Welles für den (metaphorisch erst im Scheitern) ‚vollendeten‘ Zusammenprall eines exzessiven, freien Kinos mit der klassischen Industrienorm, dann signalisiert Martin Scorsese jene nachklassische Verschmelzung, die der Eintritt des modernen und individuellen Films (via Nachkriegskunstfilmeuropa) in den USA hervorbrachte und die kein zweiter so sicher und unnachgiebig bewältigt hat wie er.“

Das nennen wir mal eine Ansage. Sie wird von Kent Jones – Filmhistoriker und Archivar von Scorseses riesiger Bewegtbildsammlung – im gleichen Begleitheft mit der Aussage ergänzt, Martin Scorsese sei einer der wenigen US-amerikanischen Filmemacher, die überhaupt nur den Versuch unternehmen, die Epoche, in der sie leben, moralisch verantwortlich zu porträtieren.

 

Zeitkapselfilme

Jenes Little Italy, das Scorsese in Mean Streets und Raging Bull konserviert hat; in dem die Einwanderer aus Italien an den Sitten und Gebräuchen der Heimat festhielten, in dem der Klerus und die Mafia regierten, und in das die alkoholgeschwängerte Verwahrlosung der um die Ecke gelegenen Bowery hineinsuppte – jenes Viertel gibt es längst nicht mehr. Es ist wie jene Gegend um die 42nd Street, in der Taxi Driver Travis Bickle sich schlaflos nach einer Sintflut sehnte, die den Abschaum aus Huren und Drogendealern in die Gullys schwappen sollte, der Kommerzialisierung der Metropole zum Opfer gefallen. Nostalgie ist es allerdings nicht, die einen angesichts von Scorseses New Yorker Zeitkapselfilmen ergreift; zu denen unter anderen auch The Age of Innocence zu zählen ist, ein Porträt der restriktiven New Yorker Upper Class des späten 19. Jahrhunderts, sowie The Wolf of Wall Street, eine konsequent irre Darstellung der Welt betrügerischer Börsenmakler in den 1990ern. In Scorseses Arbeiten feiert keine mit sentimentaler Wehmut imaginierte „gute alte Zeit“ Wiederauferstehung, vielmehr richtet sich in ihnen ein reflektierend interessierter, des öfteren auch heimlich belustigter Blick auf einen genau umrissenen historischen Abschnitt und auf eine bestimmte soziale Gruppe. Und während er nach dem Typischen und Repräsentativen sucht, und es nicht selten im Barocken und Manierierten findet, formulieren sich die eigentlichen Fragen: die nach dem Glück, die nach der Moral, die nach den Beweggründen. Und natürlich die nach dem American Dream, und auf wieviele verschiedene Arten und Weisen er sich verraten und pervertieren lässt.

Wolf of Wall Street, DiCaprio
The Wolf of Wall Street, 2013, Martin Scorsese

In immer wieder neuen Anläufen, in unterschiedlichen Genres, mit unterschiedlichen Methoden und mit nie nachlassendem Mitgefühl untersucht der große Filmemacher Martin Scorsese, der am 17. November 2022 seinen achtzigsten Geburtstag feiert, Verblendung und Fehlbarkeit des Menschen, genauer: des Mannes, noch genauer: des Machos. Bei dem es sich außerdem häufig um einen Angehörigen des katholischen Glaubens sowie um einen Italoamerikaner handelt, Umstände, die jede Menge Möglichkeiten für Doppelmoral und Bigotterie bereit halten. Scorseses Oeuvre Männerlastigkeit anzukreiden, verkennt dessen Erkenntnisinteresse, übersieht die Demontage virilen Heldentums, die sich darin anhand von ins Groteske überzogenen Klischeebildern vollzieht. Anders gesagt, man kann jedes Mal, wenn eine Figur von Joe Pesci einen ihrer berühmt-berüchtigten, zornglühenden Ausraster hat, auch an einen umherzischenden Luftballon denken, aus dem die Luft entweicht. Überhaupt fällt es schwer, in den Scorsese’schen Gangstern – die sich nicht selten (und zuletzt 2019 in The Irishman) endlos geschwätzig in ihren sprachlichen Codes verheddern, woraufhin dann mal wieder die Stimmung beim Teufel ist – Ähnlichkeiten mit jenen landläufigen, cool-melancholischen Outlaw-Gestalten zu finden, wie sie zu Dutzenden das Genre bevölkern. Romantisierung, wie gesagt, ist Scorseses Sache nicht.

 

Genre als Gesellschaftsanalyse

Ob er nun, wie in Alice Doesn’t Live Here Anymore, von einer verwitweten Alleinerzieherin erzählt, die von einer Karriere als Sängerin träumt und dann doch als Kellnerin und Hausfrau endet; oder, wie in The Aviator, von Howard Hughes, dem Millionär, Flugzeugbauer, Film- und Frauenverrückten, dem es materiell an nichts fehlt und der eigentlich zufrieden sein könnte, wären da nicht seine vielfältigen Zwangsneurosen – über den Preis, der zu zahlen ist, wenn eine:r Pläne hat, macht Scorsese sich und uns keine Illusionen. Täuschen kann man sich allenfalls hinsichtlich der profunden Bedeutung dessen, was Scorsese in seinem vorwiegend aus Genre-Filmen gebildeten Werk verhandelt. In Scorseses Händen werden die Werkzeuge einer jeden Genre-Erzählung zu chirurgisch präzisen Instrumenten der gesellschaftlichen Analyse. Man darf das Genre nicht unterschätzen; das gilt ohnehin immer, aber bei Scorsese noch viel mehr. Beispiel Shutter Island, die opulente Big-Budget-Variante eines B-Pictures; ein Drei-Manegen-Zirkus, aber keine Zirkusnummer. Manege eins: eine Pulp-Story um zwei Cops im Irrenhaus, die vermeintlich einer Verschwörung auf die Spur kommen. Manege zwei: ein Film, der dies in unberechenbare Rhythmen, wilde Zeit- und Ortswechsel und unvermittelte Abstürze in unbekannte Abgründe übersetzt. Manege drei: abstrakte Ebene, die auf den Spuren der Gewalt durch die US-amerikanische Mentalitätsgeschichte die seelische Verfasstheit des aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrten Mannes beschreibt und an die psychotische Tradition des Film noir anknüpft. Shutter Island ist verrückt, verspielt, entgrenzt und zu Zeiten schlicht wahnsinnig, und er ist ein meisterliches Beispiel für das Werk eines Mannes, der zutiefst an die Wirkmacht des Kinos glaubt.

 

Bilder: Österreichisches Filmmuseum
Die Retrospektive Martin Scorsese findet von 1. September bis 20. Oktober 2022 statt.
Beschreibung, Programm und eine alphabetische Filmliste gibt es hier.
Parallel zur Scorsese-Retro zeigt das Österreichische Filmmuseum Arbeiten der wohl bedeutendsten ungarischen Filmemacherin Márta Mészárosz, mehr dazu hier.