Nicht jugendfrei

Rückblick auf die radikalen Filme von Jörg Buttgereit

Buttgereit, Manowski, Nekromantik
Nekromantik, 1988, Jörg Buttgereit

Jörg Buttgereit: Seine Autobiografie ist ein schöner Anlass, an das radikal eigenwillige Filmschaffen des Berliner Mavericks zu erinnern.

Etwas Seltsameres, Fremdkörperhafteres als die vier Langfilme des Berliner Regisseurs Jörg Buttgereit kann man sich in der deutschsprachigen Kinolandschaft nur schwer vorstellen. Die Sujets sind das eine: Nekrophilie, Suizid ohne Psychologisierung, ein vereinsamter Serienmörder. Das hat es im deutschen Kino, das erst seit Kurzem seine Distanz zum Genre- und damit auch zum Horrorfilm etwas verringert, eh selten. Vollends heraus aus dem Gängigen und Geläufigen fallen diese Filme aber durch ihre Atmosphäre, in der Morbidität, Punkgestus und ernstgemeinte Romantik zueinanderfinden. Das alles produziert unter Lowest-Budget-Bedingungen, mit Freund:innen als Schauspieler:innen und viel Improvisation am Set.

Filme macht Buttgereit heute keine mehr, der letzte war 2015 ein Beitrag zum Episodenfilm German Angst. Inzwischen ist er vor allem für das Theater tätig und schreibt und produziert Hörspiele, die sich auf Horrorfilme und -mythen beziehen und die B-Movie-Ästhetik auf die deutschen Bühnen gebracht haben. Der Kern dieses Werks aber bleibt das Kino, anfangs mit der Super-8-Kamera produziert. Bis 1993 hat Jörg Buttgereit eine ganze Reihe Kurzfilme, von denen mindestens Hot Love und Blutige Exzesse im Führerbunker sich beim Sehen sehr einbrennen, und vier Langfilme gedreht: Nekromantik (1988), Der Todesking (1990), Nekromantik 2 (1991) und Schramm (1993). Danach wechselte Buttgereit, wie gesagt, die Spielstätten. Zu anstrengend, das Filmen ohne Budget, keine Lust mehr auf Magengeschwüre und Schauspieler:innen, die, ohne jeden Vertrag, einfach vom Set wegbleiben.

Jetzt ist Jörg Buttgereits mit vielen ekelerregenden Bildern illustrierte Autobiografie „Nicht Jugendfrei. Tagebuch aus West-Berlin“ erschienen. Ein schöner Anlass, um an die vier Filme zu erinnern, die heute, inklusive dem damals von der Staatsanwaltschaft verfolgten Nekromantik 2, wieder frei verfügbar sind.

In „Nicht jugendfrei“ kann man nachlesen, wie die Faszination am Horror in der Kindheit keimt. Nicht etwa als Trauma, sondern als Geschichte einer in der Kindheit entwickelten Medien- und Genrekompetenz. Schon früh schleicht sich der junge Jörg auch in die ranzigeren der Berliner Kinos und lernt enthusiasmiert unter anderem Godzilla und die Special Effects von Ray Harryhausen kennen. Es folgen Kiss, Punk, Slayer, und die Geschichte von Leben und Werk Jörg Buttgereits ist auch die Geschichte eines Menschen, der vom Kino und den grindigeren Ecken der Subkultur für eine bürgerliche Existenz eher versaut worden ist. Die Bilder, die Jörg Buttgereit im Verbund mit seinem Produzenten Manfred Jelinski und seinem Drehbuchautoren Franz Rodenkirchen fabriziert hat, kommen spürbar von Herzen. Diese Filme sind nicht wohltemperiert, aber auch kein rohes Splatterfest, sondern etwas anderes Drittes. Filme, in denen die Emotionen und Affekte ganz unmittelbar durchschlagen, in aller Drastik, aber immer auch mit einer ausgeprägten Lakonie und freiwilliger wie unfreiwilliger Komik (die dann freiwillig stehengelassen wurde).

Die liebenden Leichen

Es sind vor allem die zwei Nekromantik-Filme, die Jörg Buttgereit berühmt-berüchtigt machten. Zweimal eine Dreiecksbeziehung mit Leiche, mit Softcore- wie auch mit sehr drastischen Sexszenen. Die, ja wirklich, Schönheit dieser Filme kommt aus der Verbindung von lustig-pubertärem Provokationsgedöns und einer wirklich überraschenden, dann aber sehr berührenden Romantik und der Liebe zum Menschen in all seinen möglichen Aggregatzuständen, von lebendig bis Matsch, die in diesen schlimmen Bildern immer spürbar mitschwingt.

In Nekromantik sucht Rob (Daktari Lorenz), ein etwas depraviert wirkender junger Mann, Leichenteile zusammen, um dann mit ihnen und seiner Freundin Betty (Beatrice Manowski) ins Bett zu gehen. Irgendwann muss eine ganze Leiche her, und wie viele Dreiecksbeziehungen endet auch diese mit mindestens einem Unglücklichen. Betty verschwindet und nimmt den schon sehr verflüssigten Toten mit, Rob fällt in Verzweiflung und eskaliert innerlich wie äußerlich. Wilde Träume, Kindheits-Flashbacks, eine Tötung im Affekt und am Ende ein Suizid beim Masturbieren, mit Blutfontäne aus dem erigierten Schwanz.

Buttgereit meint es ernst mit der Idee, die Selbstauflösung eines unglücklichen Verlassenen in Szene zu setzen, und die nach professionellen Maßstäben ungelenke Inszenierung lässt das ganze eben nicht albern wirken, sondern verleiht den Bildern eine unmittelbare Direktheit und damit auch Ernsthaftigkeit. Die ruhige, melancholische Musik von Herrmann Kopp und John Boy Walton sorgt allerdings für den Hauptteil der Wirkung, ohne sie wäre Nekromantik ein komplett anderer Film.

Die Rückkehr der liebenden Toten

Das Sequel Nekromantik 2 ging dann einen Schritt weiter Richtung Kunstfilm. Die Splatterszenen beschränkten sich fast ausschließlich auf das Finale, in dem wieder eine Frau klarmacht, was sie will, und ihrem Freund beim Sex den Kopf abschneidet und ihn einer Leiche aufsetzt. Das Ganze ist dieses Mal so schön gefilmt, dass die Diskrepanz zwischen schrecklichem Bild und Liebesszene noch krasser ausfällt. Insbesondere, weil sich beides beim Sehen nicht widerspricht, sondern so wirkt, als sei es eins.

In den Kapiteln von „Nicht jugendfrei“, die von Nekromantik 2 handeln, geht es vor allem um die Zensurgeschichte des Films. Erst die Beschlagnahmung einer Kopie im Münchner Werkstattkino, dann ein besonders aufgewühlter Staatsanwalt, der die Vernichtung des Originalnegativs fordert. Ein im Deutschland der Nachkriegszeit (soweit ich sehe) einzigartiger Vorgang. Abgewendet wurde das u.a. durch ein Gutachten des Filmwissenschaftlers Knut Hickethier, der aus den Vollen geschöpft und Verbindungen zwischen Buttgereits tieftrauriger filmischer Sauerei und den Werken u.a. von F. W. Murnau, Christo und Nagisa Oshima hergestellt hat – das Leichenficken und -köpfen aufgewertet als metaphorisches Bild: „Mehrfach werden diese Tötungen, die auch als verfremdete Tötung des Alten, Abgelebten zu sehen sind, als Befreiungs- und Verselbstständigungshandlungen dargestellt.“ Nicht nur die Staatsanwaltschaft damals, auch der Filmemacher zeigt sich in seiner Autobiografie überrascht: „Ein intuitiv arbeitender Künstler ist selbst oft blind gegenüber der Wirkung, die das eigene Werk auf Zuschauer haben kann. Aber die überschäumende Interpretationswut des Dr. Hickethier übersteigt doch meine kühnsten Wunschvorstellungen.“

„…der macht, dass Menschen nicht mehr leben wollen“

Die große Qualität der Filme liegt genau in der angesprochenen, weitgehend intuitiven Arbeitsweise. Die schlägt in dem ein Jahr vor Nekromantik 2 gedrehten Der Todesking ebenfalls voll durch. Sieben Selbstmordszenarien werden ins Bild gesetzt, für jeden Tag der Woche einen. An dem Episodenfilm kann man besonders klar sehen, wie sich hier einer mit einem nicht-naiven, aber an der Welt ganz wertfrei interessierten kindlichen Blick besonders schrecklichen Dingen annähert. Nicht in dem Sinne, dass Buttgereits Filme kindlich wären, das sind sie nicht. Aber sie bleiben auch in ihren schlimmsten Momenten verbunden mit der Faszination, die das Verbotene und Geheimnisvolle, das auf der Leinwand aufgedeckt wird, haben kann.

In Der Todesking ist es dann auch eine Kinderstimme, die das Motto des Films formuliert: „Das ist der Todesking, der macht, dass Menschen nicht mehr leben wollen.“ Die Momentaufnahmen gewaltsamer Tode sind durchweg krude und kaputt – eine Frau schnallt sich eine Kamera vor den Bauch und läuft auf einem Konzert Amok, ein Mann erschießt sich vor den Augen einer Frau, nachdem er sich über seine von ihm ermordete Ehefrau ausgekotzt hat, ein Mann schlägt seinen Kopf so lange gegen die Wand, bis er zusammenbricht.

Auch die zahlreichen Splatter-Sequenzen verdecken nicht, dass hier jemand an die tiefschürfende Kraft von drastischen, aber eben immer auch vielschichtigen Bildern von ganzem Herzen glaubt. Und die Mischung aus Spontanität, heiterer Unbedarftheit, Begeisterung und Provokationslust, bei gleichzeitigem intuitiven Wissen um die finstersten Kammern des Seelenlebens, die man in Der Todesking und den übrigen drei Filmen Jörg Buttgereits vorgeführt bekommt, ist schon sehr bezaubernd.

„Into the Mind of a Serial Killer“

Jörg Buttgereits letzter Langfilm Schramm ist der formal interessanteste der vier. Die Kamera beschreibt immer wieder eine Art Looping-Bewegung durch den Raum, in dem das Ganze überwiegend spielt. Standbilder werden eingefügt wie ein Tableau vivant. Darüber hat Max Müller, Sänger der Berliner Band Mutter und mit Jörg Buttgereit seit Jugendtagen eng verbunden, kratzende Drones gelegt.

In diesem Setting wird die Geschichte des Berliner Taxifahrers Lothar Schramm (Mutter-Schlagzeuger und Filmproduzent Florian Koerner von Gustorf) erzählt, der ohne große äußerliche Regung Menschen umbringt und die Leichen bei sich in der Wohnung nackt stapelt. Realität und Wahnvorstellung gehen mehr und mehr durcheinander, Lothar Schramm nagelt seinen Penis auf eine Kommode und wird von einer Vagina Dentata bedroht. Berliner Hinterhaustristesse und Männerphantasien, eine vom Rest der Welt isolierte Kleinbürgerhölle. Und auch in diesem Fall gelingt es dem Film, ohne Ekel und Aversion auf seine kaputte Figur zu blicken. Es ist so, wie es ist.

Wenn man Schramm und die anderen drei Filme heute, grob 30 Jahre nach ihrem Erscheinen wiedersieht, geht das nicht ohne melancholische Anwandlungen. Die Verbindung aus Melancholie und Splatter-Ästhetik ist das eine, gleichfalls anrührend sind die in den Bildern sichtbaren Produktionsbedingungen und die darin mitschwingende Autonomie. Eine notwendige Bedingung für diese Art von Kunstproduktion jenseits jeder Institution und Akademie sind billige Mieten und die weitgehende Befreiung von Lohnarbeit. Das ist heute so nicht mehr möglich. Und neben allem anderen zeichnet Buttgereits Filme ein wirklich radikaler Eigensinn aus, der auch heute noch trägt und das Herz von Zuschauerin und Zuschauer mit Freude erfüllt.

Von Jörg Buttgereit signierte Exemplare seiner Autobiografie sind direkt beim Verlag bestellbar.

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