Anti-Idylle

Neu im Kino KW 3

Niemand ist bei den Kälbern, 2022, Sabrina Sarabi

Filme von Guillermo del Toro, Sabrina Sarabi, Emmanuelle Bercot, Mika Kaurismäki, Udo Flohr und Agnieszka Holland: Es herrscht eher Depression als Frohsinn darin. Aber wir wissen ja: Ein Gefühl für das Elend der Anderen lässt auch die eigene Lage erträglicher erscheinen.

Dass Guillermo del Toro das Medium liebt, in dem und für das er arbeitet, das Kino, sieht man jedem Bild seiner Filme an; selbst noch dem weitgehend besinnungslosen Geboller von Pacific Rim. Sein neuer Film Nightmare Alley schließt ästhetisch an die Sechzigerjahre-Phantasie The Shape of Water (2017) an: Beide sind voller Reminiszenzen an das Kino der Vierziger- und Fünfzigerjahre. Hier sind es vor allem die tiefschwarzen Ecken des Hollywood-Films, an die erinnert wird. Nightmare Alley ist kein Remake des gleichnamigen Films von 1947 (Regie: Edmund Goulding), aber die zweite Verfilmung der Romanvorlage von William Lindsay Gresham. Aus dem desillusionierenden Schwarzweiß in Gouldings Film ist bei del Toro ein farbensattes Stück Immersionskino geworden, das ohne Überwältigungsästhetik auskommt. Und neue zeitgenössische Möglichkeiten entwickelt, ans klassische Hollywood-Kino anzuschließen.

Nightmare Alley, 2021, Guillermo del Toro

Anders immersiv ist Niemand ist bei den Kälbern von Sabrina Sarabi. Hochsommer in Mecklenburg-Vorpommern, die Sonne brennt, die Luft ist schneidend dick, und die 24-jährige Christin (Saskia Rosendahl), die auf einem Bauernhof in einem Ort mit fünf Häusern lebt, will eigentlich nur noch weg. Die Beziehung zu ihrem Freund ist weitgehend tot, wie das meiste hier, und nachts wird gesoffen. Christin beginnt eine Affäre mit Klaus (Godehard Giese), die schnell gewaltvoll wird. Das deutsche Landleben, das Sarabi hier in statischen Bildern einfängt, ist die Antithese zu allem Idyllischen.

Deprimierend fing es an, deprimierend geht es weiter: Der 40-jährige Benjamin (Benoît Magimel) ist an Krebs erkrankt und will nicht wahrhaben, dass er bald wird gehen müssen. Seine Mutter (Catherine Deneuve), sein Arzt (Gabriel A. Sara) und eine Krankenschwester (Cécile de France) begleiten den sterbenden Mann durch sein letztes Jahr. Der deutsche Titel, In Liebe lassen, trifft Haltung und Atmosphäre des Films von Emmanuelle Bercot nicht so genau wie der offenere französische, De son vivant (Zu seinen Lebzeiten). Sehr schön: die Verwendung der Soap&Skin-Version von „Voyage Voyage“. In Liebe lassen fällt am Ende nicht so bedrückend aus wie vergleichbare Produktionen (man erinnere sich nur zum Beispiel an Andreas Dresens Halt auf freier Strecke, auch wenn es wehtut). Aber tanzen gehen will man nach dem Film wahrscheinlich auch nicht; oder eben gerade doch.

Die einen wollen nicht tanzen, die anderen können nicht: Während des Lockdowns sind alle Restaurants und Kneipen in Helsinki geschlossen. Risto (Kari Heiskanen) lädt sich trotzdem in die Bar seines Freundes Heikki (Pertti Sveholm) ein. Dann kommt noch ein dritter Mann hinzu (Timo Torikka), der nur kurz sein Handy aufladen will. Die drei Männer kommen ins Gespräch und sind sich sympathisch. Irgendwann dräut dann allerdings der Verdacht, dass der Fremde ein landesweit gesuchter Mörder sein könnte. Eine Nacht in Helsinki ist der letzte Teil von Mika Kaurismäkis loser Drei-Männer-Trilogie und eine Meditation über die Bedeutsamkeit von menschlicher Nähe und der Orte, an denen sie entstehen kann. Und einer der ersten der vermutlich zahlreichen Filme der kommenden Jahre, die im Lockdown spielen. Wieder trifft es der Originaltitel besser als der deutsche: Yö Armahtaa (Nacht des Erbarmens).

Auch im nächsten Film hat der Frohsinn wenig Chance. Die Bremerin Gesche Gottfried hat in den Jahren 1813 bis 1827 fünfzehn Menschen vergiftet, darunter ihre Mutter, ihren Vater, ihren Mann und ihre Kinder. Regisseur Udo Flohr hat die Ermittlungen auf der Basis von 1988 aufgetauchten Akten rekonstruiert. Zuerst sollte sein Debütfilm Effigie – Das Gift und die Stadt ein Kammerspiel werden, dann wurde das Projekt immer umfangreicher, und inzwischen ist der Film zu einem Überraschungshit in den USA geworden, wo er mehrere Wochen in für eine deutsche Produktion vergleichsweise vielen Kinos lief. Es geht in Effigie, wie schon bei Rainer Werner Fassbinders Interpretation des Falls (Bremer Freiheit), nicht zuletzt um Geschlechterrollen. Flohr hat eine Protokollantin hinzuerfunden, Cato Böhmer (Elisa Thiemann), die von Gesche Gottfried (Suzan Anbeh) am Ende ein Geständnis erwirkt. „Die Geschichte von Cato Böhmer soll zeigen, wie damals mit Frauen umgegangen wurde“, erzählt Flohr im Interview mit dem „Weser-Kurier“. „Was ja wiederum auch die Taten von Gesche Gottfried zu erklären hilft.“

Der zweite Geschichtsfilm in dieser Woche spielt in der Tschechoslowakei der Fünfzigerjahre. Agnieszka Holland (Der geheime Garten, Hitlerjunge Salomon, Klang der Stille) hat in Charlatan das Leben von Jan Mikolášek verfilmt, einem Heiler, der zum einen sehr gläubig und zum anderen, so erzählt es der Film, sehr erfolgreich war. Ivan Trojan spielt die Hauptrolle, sein Sohn Josef Trojan den jungen Mikolášek. Mikolášek wird erst von den Nazis und dann vom kommunistischen Regime verfolgt, das versucht, ihm einen Mord anzuhängen und ihn als schwul zu denunzieren. Der Film schlägt sich entsprechend bedingungslos auf die Seite seines Helden, und Agnieszka Holland kann ihre von einem profunden Humanismus bestimmten Geschichten filmisch so organisieren, dass man ihren Filmen alles glaubt. Der Trailer jedenfalls verspricht souverän inszeniertes Geschichtskino.