Einsame Nächte

Neu im Kino KW 4

Are you lonesome tonight?, 2021, Wen Shipei

Drei außergewöhnliche Filme, im Schatten von „Licorice Pizza“ und auch sonst eher im Schatten: ein fabelhafter chinesischer Neo-Noir („Are you lonesome tonight?“), das kurdische Frauenmilitär („The Other Side of the River“) und ein Suizid als Flucht vor den Nazis („Schattenstunde“).

Versteht sich quasi von selbst, dass diese Woche alle Augen erwartungsvoll gen Westen gerichtet sind. Im San Fernando Valley im sonnigen Kalifornien nämlich ist Licorice Pizza angesiedelt, Paul Thomas Andersons – wie bei einem Filmemacher seines Kalibers zu erwarten – etwas anderer Coming-of-Age-Film. Knapp neben Hollywood ist eben auch daneben. Um den Schatten, in den das grandiose Werk den Rest der diese Woche startenden Filme zu stellen droht, nicht allzu groß und tief werden zu lassen, haben wir es beiseite gebeten und widmen ihm eine Extra-Portion Aufmerksamkeit an anderem Ort.

Licorice Pizza, 2021, Paul Thomas Anderson

Und schon ist die Bühne frei für einen fulminanten Auftritt aus dem Osten, nämlich das bemerkenswerte Debüt des chinesischen Regisseurs Wen Shipei Are you lonesome tonight? Die finstere Geschichte ist 1997 in irgendeiner tropisch heißen Provinz angesiedelt: Auf einer Landstraße mitten in der Nacht fährt der junge Xueming einen Mann nieder und begeht Fahrerflucht. Vom schlechten Gewissen gepeinigt wanzt er sich sodann an die Witwe seines vermeintlichen Opfers heran. Vermeintlich, weil sich bald schon herausstellt, dass es nicht unbedingt den Falschen erwischt hat. Der Tote steckte dergestalt bis zum Hals in Schwierigkeiten, dass bereits zwei Kugeln in ihm drin steckten, als er überfahren wurde. Und natürlich taucht dann auch noch eine Tasche voller Geld auf, hinter der die Schurken her sind, hinter denen wiederum die Polizei … Okay, das Rad wird hier nicht neu erfunden. Und auch das staatstragend-dienstfertige Insert zum Schluss hätte man sich sparen sollen. Abgesehen davon aber hat man es hier mit einem stimmungsvoll und stilsicher, elegant und farbenreich inszenierten Neo-Noir im Gefolge von Diao Yi’nan (zuletzt: Der See der wilden Gänse) zu tun. Den Namen Wen Shipei gilt es also mal besser auf den Schirm zu nehmen.

Zeit für den Realitäts-Check, dem Filmemacherin Antonia Kilian in The Other Side of the River die vom kurdischen Frauenmilitär propagierten Emanzipationsträume unterzieht. Kilian ist Teil der deutschen Solidaritätsbewegung mit den revolutionären Feministinnen, die in den IS-befreiten, kurdischen Gebieten in Nord-Syrien eine militante Befreiungsideologie vertreten. Dort trifft sie auf die 19-jährige Hala, die ihr Elternhaus verlassen hat und sich zur Polizistin ausbilden lässt, um danach ihre zahlreichen Schwestern zu sich holen und solcherart vor drohenden Zwangsheiraten retten zu können. Ein nur scheinbar simpler Plan, wie sich rasch erweist, denn der Druck der Familie ist groß und die Ächtung der Gesellschaft nicht leicht zu ertragen; selbst wenn die Frau in Uniform und mit Waffe mehr Macht und Autorität hat als jene im Tschador mit dem Kind an der Hand. Kilian macht in The Other Side of the River nicht viele Worte und lässt ihre Zuschauer:innen mit so mancher unkommentiert bleibenden Szene ratlos zurück. Die Frage, inwieweit ihrer kameraverliebten Protagonistin zu trauen ist, bleibt ebenso unbeantwortet wie die nach der eigentlichen Natur von Halas Konflikt mit ihrer Familie. Als mitreißend-ermutigendes Manifest frauenbewegter Militanz eignet sich dieser Dokumentarfilm mithin also nicht. Als Teil einer Materialsammlung zum Status Quo der emanzipatorischen Debatte in der arabischen Welt sowie der dort verfolgten Strategien der Befreiung ist er allerdings mindestens hilfreich, und als historisches Dokument des Widerstands ohnehin wertvoll.

Nicht minder zwiespältig auch der Eindruck, den Schattenstunde hinterlässt. Auf reichlich unbequeme Weise rekapituliert Benjamin Martins hier die letzte Nacht des evangelischen Schriftstellers und Lieddichters Jochen Klepper, der sich in der Nacht zum 11. Dezember 1942 gemeinsam mit seiner jüdischen Frau und der Stieftochter in der gemeinsamen Wohnung in Berlin-Nikolassee das Leben genommen hat. Familie Klepper steht, so Martins, stellvertretend für jene Tausende in damals sogenannter „Misch-Ehe“ lebenden christlich-jüdischen Menschen, die während der NS-Zeit gemeinschaftlich Selbstmord begingen, um einem Transport in die Lager zu entgehen. Martins Drehbuch beruht auf Tagebucheinträgen Kleppers, darin sich auch, wenig verwunderlich, ein intensives Ringen mit den eigenen Glaubensgrundsätzen ausdrückt, schließlich gilt der Suizid den Christen als Todsünde. Ein Ringen, das Martins im Rahmen seines visuell immer wieder überraschenden, Bühnentechniken einsetzenden Kammerspiel-Films als konkretes Hadern mit einer teuflischen Gestalt in Horrorbilder übersetzt. Das blanke Grausen aber ergreift einen auch dann, wenn der Weg der drei Menschen in ihr schreckliches Sterben geradezu detailverliebt inszeniert wird. Schattenstunde wandert auf einem schmalen Grat zwischen generalisierender Abstraktion und identifikatorischem Realismus und stürzt mal den einen, mal den anderen Abhang hinunter. Ein ambitioniert gescheitertes filmemacherisches Wagnis? Vielleicht. In jedem Fall eine mutige Herausforderung öder narrativer Konventionen. Auf zwiespältige Weise sehenswert.