Toga tragender Knilch

Seneca palavert sich in der Person von John Malkovich um Kopf und Kragen – jetzt auch in AT im Kino.

Schwentke, Malkovich, Seneca
Seneca – On the Creation of Earthquakes, 2023, Robert Schwentke

„Seneca“: Den von John Malkovich inkorporierten Philosophen enttarnt Robert Schwentke in seinem brandaktuellen Elitenporträt als Wasserprediger und Weinsäufer.

Seneca? Wieso Seneca? Wer war das überhaupt? Hier hilft das Lexikon: Seneca, Lucius Annaeus, * um 4. v. Chr. Corduba in Spanien, † 65 n. Chr. in der Nähe Roms; Dramatiker, Naturforscher, Politiker und bedeutender Vertreter der stoischen Lehre. Propagierte in zahlreichen, allesamt verloren gegangenen Reden Gelassenheit und Mäßigung, während er zugleich ein Leben in Saus und Braus führte.

Und warum dreht nun einer einen Film über diesen Toga tragenden Knilch? Schließlich ist der Mann mitsamt seiner Toga vor hunderten von Jahren bereits zu Staub zerfallen und war zudem ein Philosoph, und nicht einmal ein vorbildlicher. Und was will uns heutzutage noch die Philosophie mit ihren langwierigen Gedankengängen, die der Schrecken jeden Tweets und Angstgegner jeglicher Aufmerksamkeitsspanne sind, um von der zu ihrem Verständnis nötigen Sprachkompetenz gar nicht erst zu reden.

Apropos Reden; Seneca hat sich ja um Kopf und Kragen geredet; in seiner Eigenschaft als Lehrmeister und Ratgeber – manche nennen ihn auch den Ziehvater – von Kaiser Nero nämlich … Sie wissen schon, das ist der mit dem Cäsarenwahn, der Rom abgefackelt hat (vgl. hierzu Peter Ustinov in Quo Vadis, 1951) und damit den Präzedenzfall schuf nicht zuletzt für das Hitler’sche Großkotz-Germania – für das ja, es wird gerne vergessen, ganze Quartiere in Berlin bereits abgerissen worden waren, bevor weiteres Unheil vermittels anderen Unheils in Gestalt des Zweiten Weltkriegs vereitelt wurde.

Schwentke, Seneca
John Malkovich als Seneca

Das ist jetzt deswegen keine Abschweifung, weil Seneca, der alte Schwede beziehungsweise Stoiker, glaubte, mit der Tyrannei ins Bett gehen zu können, ohne dass ihm dabei Gefahr für Leib und Leben droht. Das glauben sie ja immer, die eitlen Opportunisten, die Appeasement-Politiker, jene, die sich für schlauer halten und dabei vergessen, dass die Wahnsinnigen an der Macht nicht nur am längeren Hebel sitzen, sondern auch die Waffen haben. Dann heißt es plötzlich: Ich befehle Dir den Selbstmord, lieber Seneca!, und schon ist guter Rat teuer.

Robert Schwentke hat uns vor ein paar Jahren mit Der Hauptmann (2017) die Geschichte des „Henkers vom Emsland“ um die Ohren gehauen – ein in den letzten WK-II-Monaten angesiedeltes, immer wieder wie ins Surreale kippendes Lehrstück über Ermächtigung und Machtmissbrauch eines Deserteurs, der eine Uniform findet und zum Unhold wird. Mit Seneca holt er neuerlich zum Schlag aus, und neuerlich klingen uns die Ohren. Assistiert wird Schwentke dabei von Komplize John Malkovich, der die Titelrolle auf sich genommen hat und uns nunmehr ein Loch in den Bauch quasselt. Er räsoniert, schwadroniert, analysiert, erörtert und erläutert, labert und palavert – denn am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und also kann es ja vielleicht auch den Tod in seine Schranken weisen. Träum weiter, Philosoph!

Der Redeschwall ereignet sich in spektakulärer, um Reduktion wie Abstraktion gleichermaßen bemühter Kulisse: es ist der Landsitz Senecas, der den Schauplatz liefert und zugleich als Bühne fungiert: nicht nur für die von Seneca erdachten Tragödien, die dort vor einem Rest-Fähnlein Getreuer (verkörpert von herausragenden Schauspielfachkräften wie Geraldine Chaplin, Lilith Stangenberg, Samuel Finzi, Alexander Fehling u.a.) zur Aufführung kommen, sondern auch für den letzten Akt jenes Lebens selbst, das höchst widerwillig nur aus dem wohlgenährten Philosophenleib entweichen will.

Der Ehrlichkeit halber sei erwähnt, dass dieser Film kein Spaziergang ist. Mit einem Eimer Popcorn und einem Fass Cola verträgt Seneca sich nicht so wahnsinnig gut, denn Schwentke meint es ernst. Er entlarvt den Stoiker, der sein Weisheits-Fähnchen in jene Richtung zu hängen verstand, aus der der politische Wind wehte; der Wasser predigte und Wein soff und letztlich an seiner Eitelkeit und Selbstüberschätzung zugrunde ging. Und auf die Frage, warum wir uns mit solch einem Charakter beschäftigen sollten, verweist Schwentke auf einen „neuen Primitivismus der Macht in der Spektakelgesellschaft“ und führt aus: „Mich fasziniert an Seneca, dass er so sehr den heutigen Eliten ähnelt, die nicht in der Lage sind, die wiederauferstandenen Barbaren dieser Welt zu bekämpfen. Reaktionäre, anti-demokratische, chauvinistische Auf-Den-Tisch-Hauer, die vorgeben, demokratische Strukturen zu respektieren, nur um sie bei erstbester Gelegenheit zu ignorieren, auszuhöhlen, zu zersetzen. Jeder Ort, an dem dieser Nationalismus erneut auferstanden ist, hat diese impotente, wohlmeinende, belesene, selbstbewusste Elite, die von ihm überrumpelt wird.“

Seneca also als abschreckendes Beispiel, das uns eine Warnung sein sollte? Eh. Darüberhinaus aber doch wohl eine Aufforderung zu handeln. Von wegen graue Vorzeit und Staub der Antike … Seneca ist geradezu schwindelerregend brandaktuell.

 

Seneca – On the Creation of Earthquakes
Deutschland 2023, Regie Robert Schwentke
Mit John Malkovich, Tom Xander, Louis Hofmann, Geraldine Chaplin, Samuel Finzi, Mary-Louise Parker, Lilith Stangenberg, Alexander Fehling
Laufzeit 112 Minuten