Die Kunst des Skandals

Liebe als Gegenmacht zu sozialer Umwälzung: „Verlorene Illusionen“ – im Kino

Giannoli, illusions perdues
Verlorene Illusionen, 2021, Xavier Giannoli

„Verlorene Illusionen“: Preisgekröntes Ausstattungs- und Schauspielkino von Xavier Giannoli, der Balzacs Gesellschaftsroman „Illusions perdues“ auf zweieinhalb komplex unterhaltsame Stunden eindampft.

Die Geschichte des talentierten Gimpels aus der Provinz, der in die große Stadt kommt, ist schon oft erzählt worden. Honoré de Balzac hat sie in seinem dreiteiligen Tausend-Seiten-Roman „Illusions perdues“ zum Gerüst für eine Rekonstruktion der sozialen Welt des frühen 19. Jahrhunderts genommen, Paris zu Zeiten der Restauration. Eine komisch-grimmige Soziologie in Romanform, sozusagen. Xavier Giannoli, der mit Superstar und Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne bereits zwei Filme über die destruktive Macht des Ruhms (bzw. den Wunsch nach Ruhm) gedreht hat, und sein Drehbuchautor Jacques Fieschi (Nelly & Monsieur Arnaud, Yves Saint Laurent, Die Frau im Mond) haben die ersten beiden Teile von Balzacs Roman auf die zentrale Plotlinie und auf knapp zweieinhalb Stunden opulentes Ausstattungskino eingedampft.

Verlorene Illusionen funktioniert über weite Strecken sehr gut, auch wenn die Geschichte, die der Film nun erzählt, so geradlinig und überschaubar ist, dass eine halbe Stunde weniger vielleicht auch eine Option gewesen wäre. Der von sich sehr überzeugte und zugleich von der hohen Gesellschaft sozial überforderte Lucien de Rubempré (Benjamin Voisin) darf eigentlich gar nicht so heißen, da sein Vater kein Adeliger, sondern Apotheker und also ein Bürgerlicher war. Mit der in ihn verliebten Adeligen Louise (Cécile de France) brennt er nach Paris durch, um Schriftsteller zu werden. Die Affäre findet ein jähes Ende, als Lucien sich arg tölpelhaft aufführt, und die feine Gesellschaft beginnt zu tratschen. Lucien, die dauerhafte Armut als Drohung im Nacken, lernt den Journalisten Etienne Lousteau (ewig jung: Vincent Lacoste) kennen und tauscht die hehren literarischen Ambitionen recht schnell gegen die Honorare einer Zeitung ein. Skandale anzuheizen und Theaterstücke und Bücher gegen Bestechungsgeld kaputt- oder in den Himmel zu schreiben, ist fortan seine Aufgabe.

Voisin, Verlorene Illusionen
Benjamin Voisin in Illusions perdues

Verlorene Illusionen ist immer dann am besten, wenn er in seinen Bildern und in den Dialogen (Giannoli hat einen der sicherlich redseligsten Filme des Jahres gedreht) so soziologisch verfährt wie Balzac in seinen Romanen. Dann also, wenn er von der Entstehung und Praxis der Boulevardpresse und des Kunstbetriebes erzählt, die in dem Film wie auch in der Romanvorlage sozusagen mikrosoziologisch für eine umwälzende gesellschaftliche Entwicklung stehen: die Kommerzialisierung und Ökonomisierung von Feldern, die bis dahin wenn nicht komplett, so doch relativ weit bürgerlichen Kosten-Nutzen-Rechnungen entzogen waren.

Das ist hier vor allem die Literatur und das Theater, aber auch der Journalismus und eigentlich jede Form des menschlichen Ausdrucks, die nun nicht mehr in die Welt, sondern auf den Markt getragen wird. Während der Adel noch ein paar Jahre (bis zur nächsten Revolution) sein Untoten-Theater aufführen darf, bis die Verbürgerlichung der Welt abgeschlossen ist. „Man kann Leute für alles bezahlen, das nennt sich Fortschritt“, ist einer der vielen zentralen Merksätze des Films.

Die Mechanismen, die in Verlorene Illusionen diese umfassende Marktförmigkeit von allem und jedem organisieren, sind die Intrige und das Rezensentenwesen – auf dessen Macht, künstlerische Erzeugnisse erfolgreich werden oder scheitern zu lassen, man als Autor heute schon auch etwas neidisch werden kann…

Dass der Film dabei immer noch so etwas wie die Liebe als Gegenmacht zu den ansonsten alles ergreifenden gesellschaftlichen Kräften ins Feld führt, ist anrührend, einerseits, wird aber andererseits der Figur einer Boulevard-Schauspielerin (Salomé Dewaels) aufgebürdet, der klischeehaften Verkörperung einer einfachen, reinen Seele. Aber egal, dafür, dass Verlorene Illusionen es als opulent ausgestatteter Ausstattungs- und Schaupielerfilm (Gérard Depardieu schiebt seinen Bauch wieder sehr eindrucksvoll als des Lesens nicht mächtiger Verleger über die Leinwand) unübersehbar und auch erfolgreich darauf angelegt hat, auf Filmfestivals mit Preisen zugeschmissen zu werden, ist er sehr komplex und nuancenreich gebaut. Und macht den Spaß, den es eben macht, anderen beim Aufstieg und beim Fall zuzusehen.

 

Verlorene Illusionen / Illusions perdues
Frankreich 2021, Regie Xavier Giannoli
Mit Benjamin Voisin, Vincent Lacoste, Cécile de France, Xavier Dolan, Gérard Depardieu
Laufzeit 144 Minuten