Fünf Sternchen

Streaming-Tipps KW 4

Archive 81, 2022, Rebecca Sonnenshine

Zwei Netflix-Serien unter der Lupe: „Ozark“ geht fabelhaft ins Finale, „Archive 81“ beginnt vielversprechend.

Soviel lässt sich nach fünf von acht Episoden Archive 81 bereits sagen: Es ist eine Horrorserie, aber dezidiert nicht nur für Horrorfans, und Freund:innen analoger Speichermedien kommen jedenfalls auf ihre Kosten (wenn man das bei einer Flatrate so sagen will). Gleich zu Beginn nimmt Archive 81 einen an den Haken: Der junge Filmrestaurator Dan (Mamoudou Athie), beschäftigt beim New Yorker Museum of the Moving Image, kriegt privat ein Video zu reparieren und wenig später ein so großzügiges wie ambivalentes Folge-Angebot des Milliardärs Virgil (Martin Donovan idealbesetzt). Auf dem Video ist die Doktorandin Melody (Dina Shihabi) zu sehen, die für ihre „Oral History“-Abschlussarbeit im Jahr 1994 die mehr oder weniger merkwürdigen Bewohner:innen eines New Yorker Apartmenthauses mit ihrer Kamera zu interviewen beginnt. Das „Visser-Building“, so der Name des Hauses, ist allerdings während besagter Forschungsarbeit einem Feuer anheimgefallen, weshalb Dan nun (aber warum so viele Jahre später?) die verschmolzenen Reste der Tapes restaurieren soll. Zu diesem Zweck (oder auch zu verborgenen weiteren Zwecken?) wird er von Virgil zu einer abgelegenen, düster-schicken Achtzigerjahre-Betonvilla gebracht, wo er in weitgehender Isolation von der Außenwelt – und wie sich bald herausstellt, totalüberwacht – nun also den Job erledigt.

Mamoudou Athie in Archive 81

Selbstverständlich dauert es nicht lang und die vereinsamende Arbeit am Material führt zu Herausforderungen der Wahrnehmung, zu Vermischungen der Rezeptionsebenen und zu Schwierigkeiten der Figuren dies- und jenseits des Videobands, einen klaren Kopf zu behalten und Realität von Albdruck zu trennen. Und unter Umständen auch zu Problemen des Publikums, das alles irgendwie einzuordnen.

Archive 81, lose basierend auf einem Podcast, vermählt altbekannte Topoi des Horror-Genres mit psychologischem Familienverlustdrama. Allmählich aufpoppende Mystery-Anklänge irgendwo zwischen Ringu (1998) und Blair Witch Project (1999) halten sublim die Spannung aufrecht und addieren das Ganze zu einer doch recht ingeniösen Form des Schreckens: Was war dieses Visser nur für ein seltsames Haus? Können wir glauben, was wir sehen? Geraten wir, je tiefer wir nach etwas graben, in einen immer noch dunkleren Schacht?

Ein exorzierender Priester und ein metaphorisches Kirchenschiff säumen das sakral vertonte Video-Puzzle-Spiel zunächst auf einem katholischen Holzweg. Wenig später landet Melody in einem okkulten Künstler:innenkreis, der das Visser als spiritistische Inspirationsquelle verortet, aus der Melodys Malerfreundin Anabelle (Julia Chan) begierig saugt. Ach ja, und Junkies im verbotenen fünften Stock sind auch mit von der Partie, haben die was mit der Sekte im Gemeinschaftsraum zu tun? Recherchen von Dans Freund Mark (Matt McGorry) sollen den verwirrten Helden von all diesem Wahnsinn frei halten. Mit Archive 81 verschickt Showrunner Rebecca Sonnenshine einen mit begabten Jungstars belebten Video-Liebesbrief an das Genre und versucht zugleich dessen Grenzen zu überschreiten. Der filmfilter mag dabei seine geistige Gesundheit riskieren, bleibt aber dennoch dran.

Nun zu einer jener epochalen Serien, bei denen fast alles zusammenstimmt. Noch ist es zu früh, bei Ozark von einem Werk zu sprechen, das für die horizontale TV-Serienerzählung des 21. Jahrhunderts eine Bedeutung hat wie, sagen wir einmal Thomas Manns „Buddenbrooks“ für den Gesellschaftsroman an der Schwelle zur Moderne; abgesehen davon hat eine reiche Lübecker Kaufmannsfamilie eher wenig zu tun mit einem in die Bredouille geratenen Chicagoer Finanzberater, der samt Kernfamilie in den Ozarks von Missouri untertauchen und bald nolens volens für ein mexikanisches Drogenkartell werkeln muss. Und Ozark ist auch nicht wie „Buddenbrooks“ der Schlüsselroman eines durchbrechenden Jungautors, sondern das Gemeinschaftsprodukt eines 14-köpfigen Writing Rooms (unter der Federführung von Bill Dubuque und Mark Williams), eines elfköpfigen Regie- und achtköpfigen Kamera-Teams usw., sowie einer Heerschar an (bis in viele Nebenrollen schlicht exzellent gecasteten) Schauspielern.

Bleiben wir also lieber bei Breaking Bad als Referenz (dessen grandioses Prequel Better Call Saul geht ja ebenfalls heuer in die Zielgerade, was z.B. diesen Fan-Trailer heraufbeschworen hat). Dämpfen wir unsere Begeisterung und berichten nüchtern über den Anfang vom Ende dieser extralangen Parabel auf Kapitalismus, Gier und Blutsbande.

Ozark S4, 2022, Bill Dubuque, Mark Williams

Bald werden wir uns also von Marty und Wendy (Jason Bateman und Laura Linney), ihren verzogenen Kindern und windigen Kumpanen verabschieden müssen. Wobei: Nach der Hälfte der letzten 14 Episoden und der Überwindung einiger naturgemäß hochbrenzliger Situationen – und im Vergleich zum direkten Breaking-Bad-Zitat beim Rapport in Mexiko am Ende der dritten Season – steht die Familie Byrde erst einmal gar nicht so schlecht da. Abgesehen vielleicht davon, dass ihr Sohn Jonah (Skylar Gaertner) mit gerade einmal 14 Jahren zum Geldwäscher geworden ist und von der eigenen Mutter beinahe in den Jugendknast verraten worden wäre oder dass Jonahs neue Arbeitgeberin Ruth (Julia Garner) nach einem herben Verlust rot sieht oder dass ein mexikanischer Abgesandter des Kartells sich als unberechenbarer Ungustl erwiesen hat oder dass sich in einer Vorblende zu Beginn der letzten zwei Halbsaisons das Familienauto nach einem Unfall überschlägt.

Hmm, man muss also doch von ziemlich viel absehen. Nicht allerdings davon: Wer Ozark sieht, sieht den korruptionsdurchzogenen, waffenaffinen Kapitalismus amerikanischer Prägung hinter seinem Charity-Vorhang zur Kenntlichkeit entstellt und stuft ihn als die leider herrschend gewordene Narretei ein, als die er sich hier präsentiert – gipfelnd vielleicht in der närrischen Figur der Biodrogenbäuerin Darlene Snell (Lisa Emery), die Leute mit dem Gewehr wegbläst, um ihnen das Wort abzuschneiden. Wer’s in Sternchen braucht – Unterhaltung: fünf. Menschenkenntnis: fünf. Systemdruck-Erkenntnis: fünf.

Und wenn es zu guter Letzt noch ein Netflix-Film sein soll: Als Bonus für filmfilter-Fans holen wir Spike Lees wüsten Multimodusfilm Da 5 Bloods aus dem Schützengraben der Plattform hervor (ganz ohne Mithilfe von Alexa) und erklären ihn hiermit zum Starken Stück.