Berlinale 2023: Der Brief aus Berlin ist diesmal, logisch, ein Bericht vom größten Filmfestival der Welt. Heuer ist vieles anders, aber nicht alles besser.
Hier ist ja grade Berlinale, offiziell: Internationale Filmfestspiele Berlin, größtes Publikumsfestival der Welt, um’s mit der ortstypischen Selbstüberschätzung auszudrücken. Dazu passt, dass es in diesem Jahr ALLE Tickets NUR NOCH ONLINE gibt und also jene Leute, die kein Smartfon haben respektive erschwerten Zugang zum Internet, mit der Arschkarte in der Hand im Regen stehen. Pech gehabt! Ihr (Analoge und Marginalisierte) seid nicht das Publikum, das wir haben wollen, tut diese organisatorische Zwangsmaßnahme mit beeindruckender Arroganz kund und zeugt darüberhinaus davon, dass man mit Sparmaßnahmen auch ziemlich in die Irre gehen kann; jetzt mal demokratisch gesehen. Missmut über die neue Regelung scheint sich interessanterweise kaum zu regen, was einem hinsichtlich der tatsächlichen Breitenwirkung von Filmfestivalkultur wiederum zu denken geben könnte. Weil wer kein Berlinale-Ticket kriegt, geht vielleicht stattdessen ins Regelkino und schaut sich diesen Film hier an oder diesen oder jenen.
Die mittlerweile breitflächigst über den gesamten Stadtraum verteilten Berlinale-Kinos sind brechend voll. Und eh, gerade die Analogen und die Marginalisierten verfügen ja nun eben nicht über jene Ressourcen, die es braucht, um einen ordentlichen Shitstorm zu entfachen. Mal ganz abgesehen davon, dass sie angesichts des üblich grausligen Berlinale-Wetters (Regen mit Sturmböen) bestimmt auch besseres zu tun haben, als am Potseplatz eine Demo abzuhalten, die dort neben den unzähligen Baustellen nur als ein weiteres Hindernis wahrgenommen wird.
Dieser Platz ist im Übrigen ein Kapitel des Grauens für sich, das wir hier jedoch nicht aufschlagen wollen. Wir könnten stattdessen, weil das alle machen, über den Wettbewerb lästern und allgemein die Programmauswahl in Zweifel ziehen. Das machen wir aber auch nicht, weil die gute alte Festival-Regel gilt, dass man angesichts des enormen Angebots schon mal daneben hauen kann. Wenn also der eine Film langweilt, wäre der im Nebenkino vielleicht der große Knüller gewesen und man hat demnach falsch ausgewählt. Und das eigene Unvermögen beziehungsweise unglückliche Händchen kann man nicht den Programm-Macher:innen anlasten.
Halten wir uns daher an die Knüller; am Sonntag zum Beispiel, spät am Abend, ein Film mit dem Titel #Manhole und folgender Synopsis: Ein hoffnungsfroher Bräutigam stürzt in der Nacht vor seiner Hochzeit ins titelgebende Loch, verletzt sich dabei dergestalt, dass er aus eigener Kraft nicht mehr herauskommt und nimmt Zuflucht zu den (un)sozialen Medien (Stichwort Twitter-Account), sie sollen ihm heraushelfen. Das klingt nun nicht unbedingt sooo berauschend und war auch eher als Lückenfüller im Zeitplan ausgewählt, stellt sich dann aber als mitreißender und hochspannender, wendungsreicher Thriller heraus. Umso erstaunlicher, als da tatsächlich lediglich ein einzelner Typ in einem Loch sitzt und mit seinem Handy herumfummelt respektive telefoniert. Regisseur Kazuyoshi Kumakiri zeigt, welche Möglichkeiten selbst noch in größter Beschränkung bestehen, wenn man einen engagierten Schauspieler an der Hand hat und über dramaturgisches Geschick beziehungsweise Mut zum Wahnwitz verfügt. Nebenher schafft es #Manhole auch noch, das weiße Rauschen der, äh, sozialen Medien in seiner abgründigen Dummheit zu entlarven, indem er zeigt, wie mühsam es ist, sich durch endlose Schrottkommentare und nichtssagende Emoji-Orgien zu wühlen, wenn einem das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht.
Zu #Manhole passt Manodrome, Wettbewerbsbeitrag von John Trengove und Beitrag zur Geschlechter-Debatte sowie toxischer Männlichkeit. Ralphie, dessen Freundin schwanger ist, schlägt sich als Uber-Fahrer durch; das Geld reicht hinten und vorne nicht, aber für die Mucki-Bude immer, denn dort kann Ralphie sich ein bisschen bestätigen und außerdem der Schaulust frönen. Die dräuende Vaterschaft allerdings lässt den Druck in seinem Kessel steigen – Identitätsfragen, Zukunftsangst –, und das bevorstehende Fest der Liebe holt unschöne Erinnerung an den Vater hoch, der Frau und Kind justament am Weihnachtsabend hat sitzen lassen. Die Begegnung mit einem sektenartigen Männerhaufen scheint da zunächst wie eine Befreiung und hilfreiche Erkenntnisse sowie Wertschätzung zu bieten, fungiert dann jedoch als Katalysator hin zu einer massiven Eskalation.
Jesse Eisenberg, einer der ganz großen Darsteller von auf vielschichtige Weise negativen Charakteren, zwielichtigen Figuren und schlicht Unsympathen hat in Manodrome mächtig was zu tun und liefert als Ralphie einen Parforce-Ritt durch die Abgründe und ins Verdrängte einer von zuviel fremdbestimmen Erwartungen vergifteten Männerseele. Es hilft ihm nur leider nicht aus der Bredouille, dass Trengove sein Drehbuch mit einfach ALLEM zum Thema krisenhafter Männlichkeit schlicht überfrachtet hat: vom traumatisierten Sohn einer alleinerziehenden Mutter über die verdrängte Homosexualität bis hin zur Gewaltexplosion aus schierer Ratlosigkeit, Vatermord inklusive. Alles schön und gut und tadellos gespielt, allerdings letztlich zu individualistisch, zu spezifisch und zu konstruiert, um als Kommentar zu beunruhigenden Strömungen innerhalb der Geschlechterspannung tatsächlich zu taugen. Insofern nur halb klug und auch eine verschenkte Chance.
Als wiederum angenehme Überraschung erwies sich der erste von immerhin fünf deutschen Wettbewerbsbeiträgen: Irgendwann werden wir uns alles erzählen, Emily Atefs Adaption des gleichnamigen, 2011 erschienenen Romans von Daniela Krien. Angesiedelt in einem spezifischen geografischen Raum sowie historischen Moment – zur Wendezeit, nach der Währungsunion, irgendwo in der sächsisch-thüringischen Pampa, nahe der Grenze zu Bayern – wird eine Geschichte erzählt, die sich zu allen Zeiten überall zuträgt: die Geschichte vom Wahnsinn der Liebe. Oder vielleicht doch besser: des Begehrens.
Es ist Sommer und es ist heiß und ein knappes Baumwollkleidchen, in dem sich ein sanftes Lüftchen fangen kann und den eigenen Leib spürbar machen, reicht als Bekleidung. Eines Tags sticht der 19-jährigen Maria, die lieber Dostojewski liest als sich auf dem Bauernhof ihres Verlobten nützlich zu machen, der 40-jährige Henner ins Auge, der in der Nachbarschaft Pferde züchtet. Und sie ihm. Die beiden stürzen ineinander und die Leidenschaft schlägt ein mit einer Wucht, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.
Unter spektakulär weiten Himmeln inszeniert Atef mit großer Ruhe ein mächtiges Melodram, das zugleich dem Heimatfilm sinnliche Glanzlichter aufsetzt. Mag auch manchmal das Literarische der Vorlage mit manch klischeehafter Figur und Dialogen quälen; die Körperlichkeit vor allem von Marlene Burow in der Rolle der hormonüberwältigten Maria macht es bald vergessen. Große Gefühle wüten unter „kleinen Leuten“. Man kann an der Liebe sterben; man kann auch knapp davon kommen, um dann vielleicht dermaleinst davon zu erzählen.
Womit wir uns ins nächste Berlinale-Kino verabschieden … wenn das Internet funktioniert …
Und irgendwann werden wir uns alles erzählen.