Der subjektive Blick

Radikales Sehen als Weltwahrnehmung: „The Story of Looking“ von Mark Cousins – im Kino (DE)

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The Story of Looking, 2021, Mark Cousins

„The Story of Looking“: Wer in einen hochkonzentrierten Zustand freischwebender Aufmerksamkeit versetzt werden möchte, sollte sich diesen sehr persönlichen Filmessay von Mark Cousins ansehen.

Essayfilme schaffen in den schönsten Fällen filmische Räume, in denen man mit den Bildern denken kann. Enthoben von der Notwendigkeit, Plotlinien zu prozessieren oder mit den im Genrekino ja zumeist möglichst heftigen Affizierungsversuchen des Films umgehen zu müssen. Alles wird Gedanke, Erinnerung, Wahrnehmung. Was nicht heißt, dass filmische Essays einen nicht emotional berühren könnten. Aber die Affizierung läuft meist graduell unvorhersehbarer, subjektiver. Während das Genrekino – ganz überwiegend – auf den kleinsten gemeinsamen emotionalen Nenner zielt.

The Story of Looking ist einer dieser Filme, die in ihrem spezifischen Blick durch die Kamera und in ihrer Montage eine bestimmte Weise der Weltwahrnehmung mitvollziehbar werden lassen. Mark Cousins ist Autor und Regisseur einer äußerst lesenswerten „Story of Film“ und der gleichnamigen Verfilmung des eigenen Buches (hier eine der damals raren Besprechungen). Seine Kinogeschichte umschließt sowohl die kanonische Perspektive wie auch den Blick auf die Ränder und das Unterschlagene und Vergessene. Ein Blick, der radikal subjektiv ist und trotzdem aufs Allgemeine zielt. Womit eine Gleichzeitigkeit benannt ist, die ich mit dem essayistischen Kino in Verbindung bringe; immer dann, wenn es dieser Art Kino gelingt, mich zu berühren.

Nach „The Story of Film“ hat Cousins ein Buch über die Voraussetzungen des Kinos veröffentlicht, in dem das Medium zwar noch eine große Rolle spielt, allerdings nicht mehr im Zentrum steht. „The Story of Looking“ umkreist, lose und assoziativ, verschiedene Hinsichten auf das Schauen. Es geht, neben vielem anderen, um die Herausbildung der ersten Objekte im kindlichen Blick, die Frage, was man aus den Perspektiven auf Gemälde auf den Blick auf die Welt ableiten kann, die untrennbare Verknüpfung von Schauen und Begehren.

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17 Jahre nach dem Erscheinen des Buches legt Cousins eine Verfilmung vor (falls das das richtige Wort ist in diesem Fall). Anders als der Text allerdings geht der Film von einer Angst aus, einer Verletzung und einem drohenden Verlust, mit dem sich Kinomenschen gut verbinden können: Der Filmemacher, der sein gesamtes berufliches und, wie The Story of Looking schnell klarmacht, auch sein sonstiges Leben um das Sehen, Betrachten und das Aufgehen in Bildern und Eindrücken herum organisiert, bekommt eine Grauer-Star-Diagnose und droht, auf einem Auge blind zu werden. Am Tag vor der Operation liegt er mit einer Handkamera im Bett, filmt sich und spricht über sein Sehen der Welt. Aus nächster Nähe und etwas durcheinander, angesichts der Perspektive, dass ihm ein Arzt in ein paar Stunden das Auge aufschneiden wird.

Es ist kein Zufall, dass Mark Cousins das Bett und nicht etwa den Schreibtisch als Drehort gewählt hat. Alles hier soll einem nahekommen, ohne dass der Zuschauerkopf dabei matschig wird. Wir sehen das Gesicht, später auch den Körper des Filmemachers, seine Beine (die Beine seien das Beste an ihm, versichert Cousins), die Genitalien. Später im Film zeigt Cousins Bilder, die der von einem spielenden Kind in einem Flüchtlingslager gemacht hat. Erst spielt das Kind, dann weint es bitterlich. Darf man das zeigen, ist das Voyeurismus? An einer anderen Stelle liegt der Filmemacher nackt im Wasser, aufgenommen von oben, aus der Perspektive dessen, der beobachten, selbst aber nicht berührt werden kann.

In Erinnerung bleibt The Story of Looking als eine assoziative Aneinanderreihung von starken Eindrücken, verknüpft durch die angenehme, beruhigende Stimme des Filmemachers, die, wenn man sich ganz auf diese Bilder und die Töne einlässt, meditativ wirkt. Man wird in einen entspannten, aber hochkonzentrierten Zustand freischwebender Aufmerksamkeit versetzt. Und also empfänglich nicht zuletzt für die ungeheure Schönheit der Bilder, die Cousins mit seiner Kamera eingefangen hat: Sonnenauf- und untergänge, seine Stadt Edinburgh, Filmausschnitte, die einem in der präzisen und zugleich lockeren Montage von The Story of Looking noch einmal besonders verdichtet erscheinen, Landschaften, Witterung (erstaunlich wenig Menschen).

Eine Theorie des Sehens ist hier nicht zu bekommen. Die Assoziationen öffnen einen Raum für eigene Erfahrungen, die sich intuitiv mit den Erfahrungsbildern und dem Sprechen über diese Erfahrungen verbinden lassen. Alles, was hier gesprochen wird, hat, neben den Sätzen das Sehen und das Schauen auf und in die Welt eben nicht primär Thesencharakter, sondern öffnet einen sozusagen experimentellen Raum für das eigene Denken, das Denken des Zuschauers mit den Bildern und getragen von ihnen. Wenn Cousins also im Bett vor der Kamera Antworten auf seine per Twitter in die Welt gestellte Frage nach der Bedeutsamkeit des Sehens vorliest, geht es nicht so sehr um die Inhalte der Antworten, sondern darum wahrzunehmen, wie hier gemeinsam, in einem virtuellen Raum über diese Dinge nachgedacht wird. Und Mark Cousins hat seinen Film so gebaut, dass wir uns als Zuschauer:innen im selben Raum befinden, anstatt ihn von außen zu betrachten.

Der Blick auf die Welt, der hier mittels Kamera und Schnitt konstruiert wird, ist vor allem anderen ein zärtlicher. In ihm wirkt selbst die notwendige Gewalt, die dem Träger des sozusagen vorhergehenden Blicks, dem Auge des Regisseurs, angetan wird, nicht wie Gewalt. Sie entfaltet sich stattdessen wie ein weiteres anziehendes Bild vor uns: Die Nadel des Chirurgen durchstößt den weichen Augapfel, eine neue Linse wird eingesetzt, ein nächster wunderschöner Moment. Auch das Bild des weinenden Flüchtlingskindes ist so konstruiert, dass es keinen Übergriff, keine Ausbeutung bedeutet. Die Zärtlichkeit liegt hier in der Aufgabe der Kontrolle. Dem Kind wird die Kamera überlassen. Die ist jetzt eben ein Spielzeug, kommentiert Cousins auf der Tonspur.

Das ist vielleicht das eigentlich Schöne an The Story of Looking: Er führt vor, wie man ohne jede Gewalt auf etwas schauen kann. Und diese Gewaltlosigkeit ist keine, die die potenzielle Gewalt des Blickes negiert oder verdrängt. Sie entsteht, weil Mark Cousins es mit seinen Bildern und seiner Stimme gelingt, diesen Blick für und mit Zuschauerin und Zuschauer einzuüben.

 

The Story of Looking
Großbritannien 2021, Regie Mark Cousins
Mit Mark Cousins u.a.
Laufzeit 90 Minuten