Große Stars und kleine Lichter

Glamour-Bemühungen am Potsdamer Platz, Schauspiel-Sternstunden in den Kinos.

Çatak, Benesch, Das Lehrerzimmer
Das Lehrerzimmer, 2023, İlker Çatak

Fucking Bornholm besprechen wir am Ende dieses Mai-Briefs aus Berlin, denn hier war ja gerade Filmpreisverleihung. Genauer gesagt wurden vergangenen Freitag im Rahmen einer glamourösen Gala im Theater am Potsdamer Platz – Heimat der Berlinale, Wettbewerbspremieren, ansonsten meist leer stehend – die Lola genannten Deutschen Filmpreise verliehen. Die Chose sorgt jedes Jahr für Kontroversen, handelt es sich dabei doch um mit hohen Summen Steuergeldes dotierte Preise, über deren Vergabe seit einigen Jahren ein privates Gremium entscheidet, nämlich die Mitglieder der Deutschen Filmakademie. Auch heuer haben selbige sich nicht mit Ruhm bekleckert. Insofern sie nämlich Edward Bergers Oscargewinner Im Westen nichts Neues vielfach nominierten, obwohl der Kino-Einsatz der Netflix-Produktion bestenfalls „alibihalber“ genannt und auch sonst einiges kritisiert werden kann, und auf Roter Himmel von Christian Petzold glatt vergaßen. Roter Himmel ist jener Film, in dem Thomas Schubert … Sie wissen schon. Harte Worte wurden ob diesen Versagens laut – und trafen interessanterweise auf offene Ohren. An der Überarbeitung der Auswahlkriterien werde intensiv gearbeitet, war seitens der Akademie zu hören. Und obwohl Im Westen nichts Neues neun Auszeichnungen aus zwölf Nominierungen holte, wurde zur nicht geringen Überraschung İlker Çataks Das Lehrerzimmer mit dem Filmpreis in Gold als Bester Spielfilm ausgezeichnet sowie mit weiteren Preisen für die Beste Regie und das Beste Drehbuch (hier unsere Besprechung). Nützliches Wissen am Rande: Albrecht Schuch nahm für die Beste Männliche Nebenrolle (in Im Westen …) seine vierte Lola mit nachhause (ist aber noch viel besser in diesem Film).

Weil eben von der Berlinale die Rede war: Bereits im vergangenen Jahr wurde im dortigen Wettbewerb das Familiendrama La Ligne der französisch-schweizerischen Filmemacherin Ursula Meier gezeigt, das nun endlich doch noch in die Kinos kommt. Es beginnt fulminant mit einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter, an deren Ende ein Richter sich dazu genötigt sieht, ein Annäherungsverbot zu verhängen. Hundert Meter Abstand muss die Tochter fortan vom Haus der Mutter halten. Was ist los mit dieser Frau, die sich nun nahezu täglich am Rand jenes Bannkreises einfindet, den ihre kleine Schwester mit hellblauer Farbe um das Mutterhaus gezogen hat? Dort drinnen sitzt sie, wie die Spinne im Netz, die ziemlich spinnerte, ungemein selbstverliebte, immer mal wieder hochnotpeinliche, ehemalige Konzertpianistin, die mutmaßlich ihr gerüttelt Maß zum Missraten der ältesten Tochter beigetragen hat. Valeria Bruni Tedeschi spielt diese Frau mit sichtbarem Genuss an der gerade noch so vertretbaren Übertreibung als eine explosive Mischung aus Prinzessin und Hexe. Ihr gegenüber steht Stéphanie Blanchoud, die die Tochter nach außen wie eine permanent geballte Faust wirken lässt, während sie im Inneren an ihren eigenen masochistisch-suizidalen Impulsen zu verzweifeln droht. Allein die Schauspielerei in diesem Film lohnt den Besuch.

Stichwort Schauspielerei: Freuen können sich Filmfreund und Filmfreundin auch auf neue Arbeiten von Robert De Niro, Nicolas Cage, Mia Goth und Bill Nighy. De Niro fügt seiner mittlerweile recht umfangreichen Sammlung eigenwilliger Grumpy Old Men in der Culture-Clash-Komödie About My Father von Laura Terruso ein weiteres Exemplar hinzu: einen stolzen italienischen Immigranten, der es als Friseur zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat, und den es, weil der Sohn sich verliebt hat, nun unter weiße Oberschichtler verschlägt, die ihre Vorfahren mutmaßlich bis zu den Pilgervätern zurückverfolgen können.

Cage wiederum kann seine Hauer, und das ist wörtlich zu nehmen, in der Horrorsatire Renfield von Chris McKay in die Figur des altbekannten Blutsaugers versenken und das Leben seines filmgeschichtlich arg vernachlässigten, titelgebenden Assistenten (engagiert verkörpert von Nicholas Hoult) zur Hölle machen. Sehenswert ist das haltlose Schlachtfest vor allem wegen Awkwafinas Körperbild einer wackeren Streifenpolizistin, die auch irgendwie ins Schlamassel gerät.

Goth arbeitet währenddessen mit Ti Wests Pearl – an dessen Drehbuch sie mitgeschrieben und den sie mitproduziert hat – an der Figur der sexbesessenen Alten weiter, die in Wests X (2022) Angst und Schrecken verbreitet hat. Das wollte man ja ohnehin längst wissen, wie es dazu kam, was da passierte. Nur stellt sich, nach der Ansicht dieses ungewöhnlich schrecklichen Films, die Frage doch noch einmal neu: Wollten wir es wirklich so genau wissen?

Weniger horror-affinen Gemütern sei daher Bill Nighy vorgeschlagen, der große Szenendieb, der endlich einmal wieder in einer Hauptrolle zu sehen ist; einer zumal, in der er sein ganzes Repertoire an subtilen Ausdrucksmöglichkeiten zu schönster Geltung bringen kann. Living ist Oliver Hermanus’ Remake des Films Ikiru von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1952, der wiederum auf einer Novelle von Lew Tolstoi („Der Tod des Iwan Illjitsch“, 1886) beruhte. Das Drehbuch zum Remake schrieb Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro. Living – die Geschichte eines sterbenden Beamten, der noch etwas vom Leben will und sich den Bau eines Spielplatzes zum Ziel nimmt – ist ein Melodram, dem es um die Gefühle eines Mannes zu tun ist, der den Ausdruck von Gefühlen nie gelernt hat. Wer könnte das besser spielen als Nighy, der vor lauter Gefühl aus allen Nähten platzt und eben dies so hervorragend zu verbergen weiß.

Zuguterletzt nun also noch und weil die sogenannte Urlaubszeit bereits am Horizont dräut, eine Warnung unserer polnischen Nachbar:innen: Fucking Bornholm von Anna Kazejak, ein präzise beobachtetes, vielschichtiges Beziehungsdrama mit grotesk-komischen Einsprengseln, angesiedelt auf titelgebender Insel, die auch als „Perle der Ostsee“ bekannt ist. Hier also urlauben seit Jahren gemeinsam zwei Paare mit jeweiligen Kindern; nur ist es diesmal nicht wie immer. Denn Dawid hat sich scheiden lassen und kommt mit seiner bedeutend jüngeren, neuen Freundin Nina; sowie Sohn Kaj, der nunmehr bei der Mutter lebt und bei dem er Boden gut zu machen hofft. Bei Maja und Hubert mit den Söhnen Eryk und Wiktor scheint hingegen alles wie gewohnt, doch wer genau hinsieht, erkennt die feinen Haarrisse ermüdender Routine. Dann probieren die drei kleinen Jungs in der Nacht im Zelt etwas Nicht-Jugendfreies aus, das einer von ihnen auf dem Computer seines Vaters gesehen hat. Die Sache ist peinlich und tabu-beladen und treibt Kinder wie Erwachsene an ihre Grenzen. Erkundet wird in Fucking Bornholm auch das mittlerweile schwer verminte Gelände zwischen ersten Entdeckungen kindlicher Sexualität und Missbrauchsvorwürfen an Schutzbefohlene wie Erziehungsberechtigte gleichermaßen. Allerdings ist der Porno-inspirierte Vorfall lediglich der Anfang eines Strudels, der alle gleichermaßen in den Abgrund reißt. Urlaub als Tortur und schauspielerische Kür. Das wunderbar stimmig besetzte Ensemble nutzt die Gelegenheit zum Kammerspiel unter freiem Himmel. Unterstützt von Jerzy Rogiewicz’ deutlich von Vivaldi inspiriertem Score, der dieser Darstellung sehr erwachsener Ratlosigkeit angesichts des Feststeckens im eigenen Leben eine opernhaft-opulente Anmutung und existenzielle Schwere verleiht.

Bis zum nächsten Mal … bleiben Sie tapfer!