Der Glamour hat die Stadt verlassen; der rote Teppich ist eingerollt, der Potsdamer Platz liegt wieder im Dämmerschlaf und die Bären haben sich an ihre jeweiligen neuen Bestimmungsorte verzogen – nicht wenige von ihnen gingen dabei in die Irre. Einen französischen Altmeister, der mit seiner Familie Home-Movies dreht, für die Beste Regie auszeichnen – ist das nicht langweilig? Einer deutschen Regisseurin, die Narration durch Choreografie ersetzt, den Preis für das Beste Drehbuch zusprechen – ist das nicht daneben? Einer Neunjährigen die Trophäe für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle zuerkennen – läuft da nicht was schief? Zumal dieser Silberne Bär Thomas Schubert zugestanden hätte, ja, bei ihm hätte landen müssen, derart unausweichlich ist seine Darstellung des semi-verkrachten, meist griesgrämigen Schriftstellers in Christian Petzolds Roter Himmel, der im Übrigen mit dem Goldenen Bären hätte Nachhause gehen sollen. Naja, es ist im Grunde jedes Jahr dasselbe, man fragt sich, in welchen Filmen eigentlich die Jury saß und/oder ob sie Tomaten auf den Augen hatte und ärgert sich über verpasste Chancen und ungenutzte Gelegenheiten.
Soviel also noch zu Roter Himmel und zur Berlinale, und bei dieser Gelegenheit, sozusagen als Zugabe, noch eine Bemerkung zu den Oscars: Keine Auszeichnung für Tár?! Keine einzige?!? Stattdessen eine Debatte darüber, ob der Film frauenfeindlich ist!? Echt jetzt?! Das ist derart verlogen und realitätsfern, dass sich die Nackenhaare sträuben. Will wirklich niemand über die Korrumpierbarkeit durch Macht diskutieren? Glaubt tatsächlich jemand, dass das Geschlecht/Gender immunisiert gegen moralisches Fehlen? Sind wir etwa im weltbefriedeten Märchenland der rosa Glitzerprinzessinnen gelandet und haben es nicht bemerkt? (Hier unser Einspruch.)
Lassen wir das. Wenden wir uns stattdessen lieber wieder Berlin zu, das auch ohne Glamour alles andere als langweilig ist. Während auf den großen Leinwänden mit John Wick: Chapter 4 und Dungeons & Dragons: Honor Among Thieves Kandidaten aus der Abteilung Krach und Krawall ihren Aufgaben als Crowdpleaser und Moneymaker nachkommen, lässt sich auf den kleinen Neues über Altes erfahren.
Sandra Prechtel, die 2013 mit Roland Klick – The Heart Is a Hungry Hunter ein aufschlussreiches Porträt des Autorenfilmers vorlegte, richtet in Liebe Angst (uraufgeführt im Rahmen des vorjährigen Münchner Filmfestes) den Blick auf ein Mutter-Tochter-Verhältnis. Dessen Dysfunktionalität – die im Zuge einer erweiterten Familienaufstellung zutage tritt – wurzelt wie so oft im Verschweigen und Verdrängen: Kims Oma, Lores Mutter, wurde vergast; worüber Lore nie reden konnte und auch heute nicht reden kann, das vergiftet Kims Leben. Die Aufarbeitung, die von Kim versucht wird, wird von Lore mit Verweigerung beantwortet. Prechtel beobachtet und begleitet und präpariert Verästelungen, die ein Gift durch die Zeiten tragen, das viele Namen kennt.
Hier verbietet sich jeder Versuch einer launigen Überleitung, deswegen sei abrupt auf Breaking The Wall hingewiesen, Kaspar Kasics erhellende Dokumentation über die verdienstvolle Schriftstellerin und Feministin Erica Jong, deren 1973 erschienener Roman „Fear of Flying“ – seinerzeit als Porno diffamiert – die sexuelle Befreiung der Frau vorantrieb. Höchste Zeit, mal wieder ein Buch dieser quirligen, im besten Sinne aufgeklärten Frau zur Hand zu nehmen.
Man(n) kann aber auch ins Kino gehen und weiter reminiszieren. Beispielsweise in Maigret, Patrice Lecontes angenehm altmodischer Adaption eines Romans von Georges Simenon, in der der melancholische Kommissar von Gérard Depardieu kongenial dargestellt wird. Nicht ganz so umfangreich, dabei doch auch nicht mehr so recht untauglich für den Circus Maximus: Russell Crowe, der in The Pope’s Exorcist von Julius Avery die Titelrolle übernommen hat und es im Zuge seiner Berufsausübung mit niemand Geringerem als Franco Nero zu tun bekommt, der als Papst sozusagen den Teufel mit dem Beelzebub austreibt. Ein Treffen alter Haudegen, das sich eigentlich nur entgehen lassen kann, wer sich stattdessen lieber von John Malkovich zutexten lässt. Der nämlich hat in der Titelrolle von Robert Schwentkes Seneca (römischer Philosoph, Politiker und Opportunist, Verfechter der stoischen Lehre, Erzieher und Berater von Cäsarenwahn-Nero, der ihn schließlich zum Suizid zwingt) geradezu mörderische Mengen an komplexem Text zu bewältigen und wirkt dabei obendrein noch so, als sei er ganz in seinem Element. Während also Malkovich Seneca schultert und mit dem Film davonläuft (hier der Trailer), trägt andernorts ein anderes Präsenzmonster seinen Film im Alleingang: Willem Dafoe ist in Vasilis Katsoupis Inside genau das: ein in einem New Yorker Luxus-Penthouse gefangener Kunstdieb, der bei seinen Versuchen, sich zu befreien, eine Art Action-Happening-Performance-Mysterienspiel veranstaltet. Am Ende ist umdekoriert.
All jenen, die ihre filmhistorische Bildung weiter vertiefen wollen, sei zuguterletzt noch die Reihe „Eye to Eye“ im Rahmen der Magical History Tour im April im Arsenal nahegelegt. Gezeigt werden Filme – darunter Ingmar Bergmans Persona (1966) und Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984) von Ulrike Ottinger –, die sich um die vierte Wand nicht scheren und die Grenze Leinwand-Zuschauerraum willentlich überschreiten. Ein beunruhigendes Phänomen, das den Blick in den Spiegel evoziert, hinter dem sich, wir ahnten es, das Wesen des Kinos verbirgt.