Kino-Ereignisse

Neu im Kino KW 13

Abteil Nr. 6, 2021, Juho Kuosmanen

Ein erkrankter Wissenschafter, ein wiedergeborener Zeugenschützer, ein seiner Ehre verlustig gegangener Herr – und u.a. russische Fußnoten zu einer außergewöhnlichen finnischen „RomCom“. Die Kino-Ereignisse der Woche.

Es gehört zur Größe und zum Schrecken des Mediums Kino, dass es nicht nur Kino-Ereignisse wie L’événement / Das Ereignis zustande bringt (siehe Appendix unten), sondern auch solche wie Sonic the Hedgehog 2. Man verdrängt solche Informationen ja ganz gerne mal, aber der erste Teil gehörte 2020 zu den erfolgreichsten Kinoproduktionen weltweit. Das Sequel war da unvermeidbar. Die Zielgruppe, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren aufgewachsen und ansprechbar für nostalgische Reminiszenzen an ihre damaligen Medienerfahrungen ist, sie ist offenbar ziemlich groß. Und ein paar Fans unter 40 scheint das Franchise auch zu haben. Der hochtourige blaue Igel rast durch einen hauchdünnen Plot, Jim Carrey grimassiert, alle, die ihre Kindheit über weite Strecken vor der Sega-Konsole verbracht haben, freuen sich.

Nicht wirklich aus der Abteilung Kino-Ereignisse und daher ungleich schwächer antizipiert kommt das Sequel zum 1996 erschienen Eraser, einem Äktschn-Film aus der Phase von Arnold Schwarzeneggers Schaffen, die von Filmen wie Batman & Robin und Versprochen ist versprochen bestimmt wurde. In Eraser Reborn ist Schwarzenegger nicht mehr dabei, und warum jetzt eine Neuauflage eines soliden, doch nicht ganz zu Unrecht vergessenen Neunzigerjahre-Actionfilms zwar nicht in die US-amerikanischen, dafür aber in die hiesigen Kinos kommt – man weiß es nicht.

Der dritte Film des Sony Spider-Man Universe ist ein weiterer Schritt auf dem Weg, das Superheldenwesen finsterer und finsterer zu gestalten, sowohl was die DC-Comic-Verfilmungen als auch die Marvel-Produktionen angeht. Morbius ist eine der traurigeren Marvel-Figuren: ein erkrankter Wissenschafter, der sich mit Fledermausblut selbst therapiert und darüber zum Blutsüchtigen wird. Der Trailer verspricht perfekt gebautes Düstermannkino, mit einem ambivalenten, in sich zerrissenen Antihelden, gespielt von Jared Leto, der gerne mal zum Overacting neigt (auch z.B. in der sehenswerten Serie WeCrashed), was sich in das dunkel-expressive Setting in diesem Fall aber recht gut einzufügen scheint.

Und dann gibt es noch diese unscheinbaren Filme, die man ohne großen Erwartungen sieht und die sich dennoch dauerhaft als Kino-Ereignisse festsetzen. Der Regisseur Juho Kuosmanen hat 2016 mit seinem Langfilmdebüt Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki einen der schönsten finnischen Filme des Jahrzehnts gedreht. Auch sein zweiter, Abteil Nr. 6, wählt einen ungewöhnlichen Zugang zum Genre – einen, der das Genre sehr sanft verwandelt nämlich. Im Fall von Olli Mäki war es der Sport- oder Boxerfilm. Bei Abteil Nr. 6 ist es die RomCom. Die finnische Studentin Laura (Seidi Haarla) fährt mit dem Zug durch Russland, mit ihr im Abteil fährt der russische Minenarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov) zu seinem nächsten Job. Die Nähe, die zwischen den beiden entsteht, ist nicht die romantische Nähe, die man zum Beispiel aus Before Sunrise und 180 weiteren Boy-meets-Girl-Geschichten kennt. Beide stehen an Wendepunkten ihres Lebens, und Kuosmanen schenkt seinen Figuren eine lakonische Entspanntheit. Übereifrig hingegen war die – inzwischen zurückgenommene – Entscheidung der Cinestar-Gruppe, den Film nicht ins Programm zu nehmen, weil Hauptdarsteller Borisov Russe ist und sechs Prozent des Budgets von Abteil Nr. 6 aus Russland stammen. Der Boykottversuch gehört zu den tristen Momenten, in denen das Denken in nationalen Kategorien, das vom Krieg befeuert wird, auch die trifft, die gegen den Krieg kämpfen: Yuriy Borisov hat kurz nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine einen Appell gegen den Krieg unterzeichnet – was in Russland ein risikoreiches Unterfangen ist, anders als in Deutschland oder Österreich.

In einem direkten Sinne politisch ist A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani, der neue Film von Asghar Farhadi, der die Geschichte von Rahim (Amir Jadidi) erzählt. Rahim sitzt im Gefängnis und hat Freigang, seine Freundin findet eine Tasche voller Goldmünzen – und das iranische Rechtssystem gibt Verurteilten die Möglichkeit, sich freizukaufen. Damit steht Rahim vor einer schweren Entscheidung. Er entschließt sich, das Geld zurückzugeben. Durch eine kleine Notlüge entstehen aber ganz neue Probleme, und jetzt geht es Rahim an die Ehre. Zum einen sind Farhadis Filme Porträts der iranischen Gesellschaft der Gegenwart. Zum anderen aber, universaler, erzählen sie von Menschen, deren Entscheidungen nie ungebrochen richtig sind, auch wenn sie sich aus richtigen Impulsen speisen. Es ist immer kompliziert.

Und zum Abschluss Kinderkino: Ali Samadi Ahadi, der mit seinen Pettersson und Findus-Filmen zwei sehr charmante Kinderbuch-Adaptionen geschaffen hat, hat Peterchens Mondfahrt verfilmt. Es ist – nach den Filmen von 1959 und 1990 – die dritte Verfilmung des Kinderbuchklassikers von Gerdt von Bassewitz. Der Charme des Alten geht Ahadis Film ab, Peterchens Mondfahrt kommt 2022 in der Schnittgeschwindigkeit und visuellen Opulenz daher, die auch in deutschsprachigen Animationsfilmen für Kinder inzwischen Standard ist. Der Zauber des Originals bleibt trotzdem erhalten.

Weitere Kino-Ereignisse, nicht mehr lange zu sehen:

„Die Sexualität in ihrer fröhlichen Form, der erregte Körper, das interessiert die Leute“, erklärt die Autorin Annie Ernaux in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zur Verfilmung ihres autobiografischen Romans Das Ereignis. „Aber wenn es um den gebrochenen, fast verblutenden Körper einer jungen Frau geht, schauen alle weg. Dann ist es eine Frauensache.“ Ernaux’ im Jahr 2000 erschienener Roman erzählt von einer Abtreibung im Frankreich der frühen Sechzigerjahre – und ist kein historischer Roman, sondern ein Bericht über die anhaltende gesellschaftliche Verfügungsgewalt über Frauen. Hier unsere Empfehlung des Films von Audrey Diwan.

Céline Sciamma legte 2019 mit Porträt einer jungen Frau in Flammen einen der intensivsten Filme des Jahres vor. Dem gingen drei Werke voraus, die zusammen einen Jugend-Trilogie bildeten (Water Lilies, Tomboy und Mädchenbande). Mit Petite maman – Als wir Kinder waren wendet Sciamma sich, der deutsche Titel deutet es an, der Kindheit als Sujet zu. Nelly (Joséphine Sanz) fährt nach dem Tod ihrer Großmutter in das Haus, in dem ihre Mutter Marion aufgewachsen ist. Die Mutter muss weg, in die Klinik, mit Depressionen. Beim Spielen im Wald trifft sie ein Mädchen, das genau so heißt, Marion (Gabrielle Sanz, Zwillingsschwester von Joséphine). Sciamma ist wieder sehr nah an ihren Figuren, ohne ihnen – oder der Zuschauer:in – zu nahe zu treten. Ein Film über Kindheit, das Erwachsensein und über die Traurigkeit, die, wie Marion erklärt, nicht von den Kindern erfunden worden ist (hier unsere ausführliche Besprechung).