Call Jane

Neu im Kino KW 48 (DE)

Nagy, Call Jane
Call Jane, 2022, Phyllis Nagy

„Call Jane“ und andere Neustarts: die stillen Trabanten um die Sonne, mehr denn je. Unser Wochenfilter.

In den USA wird das Recht auf Abtreibung zunehmend in Frage gestellt, da ist Call Jane der richtige Film zur richtigen Zeit. Elizabeth Banks spielt die Hausfrau Joy, die von ihrem Arzt mitgeteilt bekommt, dass bei der bevorstehenden Geburt ihres zweiten Kindes eine gerade mal fünfzigprozentige Überlebenschance für sie bestehen würde. Die zuständige Gruppe an entscheidungsbefugten Männern entscheidet, dass eine Abtreibung nicht infrage kommt in diesem Fall – Amerika in den Sechzigerjahren, Joy ist auf sich allein gestellt. Regisseurin Phyllis Nagy (Drehbuchautorin von Carol) erzählt den Kampf um das Recht auf Abtreibung als Heldinnengeschichte. Joy trifft eine Aktivistinnengruppe, die aus dem Untergrund heraus Abtreibungsärzte organisiert. Angeführt wird letztere von Virginia, eine weitere Paraderolle für Sigourney Weaver als unnachgiebige Kämpferin.

Call Jane interessiert sich nicht wirklich für verzweifelte Zustände oder etwas in der Art, sondern will vom Kampf für den gesellschaftlichen Fortschritt berichten. Von einer Frau in einer radikal existenziellen Situation berichtet stattdessen Mehr denn je, der neue Film von Emily Atef, die sich als Filmemacherin auf dieses Sujet sozusagen spezialisiert hat. Héléne (Vicky Krieps) ist schwer krank und spürt, dass sie vor ihrem drohenden Tod nach Norwegen reisen möchte, um dort einen Blogger zu treffen, der gelassen über seine eigene Krankheit schreibt. Diese Reise ist der Rahmen, in dem Atef ihre Geschichte über die Akzeptanz des Todes erzählt. Ihr Partner Mathieu (gespielt vom 2022 durch einen Skiunfall zu Tode gekommenen Gaspard Ulliel) reist ihr hinterher, und der Abschiedsprozess beginnt. Ein Prozess, der in Mehr denn je / Plus que jamais mit nur wenig Pathos, stattdessen sehr zurückhaltend inszeniert ist.

Gute-Laune-Kino ist das natürlich trotzdem nicht. Das gilt auch für Die stillen Trabanten, den neuen Film von Thomas Stuber (In den Gängen, Hausen). Stuber hat ein weiteres Mal ein Buch des Schriftstellers Clemens Meyer verfilmt, und die Kooperation hat erneut Interessantes hervorgebracht: Drei Geschichten Meyers sind die literarischen Vorlagen für einen Film über das Leben in Leipzig und da insbesondere an den Rändern der Stadt. Die Figuren sind in ihrem prekären Leben gefangen, nicht zuletzt ist Stuber einer der wenigen deutschen Filmemacher zurzeit, deren Figuren der Arbeiterklasse entstammen. Die Ränder der Stadt sind hier nicht einfach Orte, an denen die zufällig Gescheiterten sich tummeln, sondern welche, die es in einer Gesellschaft wie der deutschen (und der ostdeutschen im Besonderen) geben muss, aus strukturellen Gründen. Dabei geht es Stubers vorsichtig poetischem Sozialrealismus nicht einfach um Elendsbilder, sondern um die Selbstbehauptung der Figuren, um geglückte Momente und um Veränderungen.

Von Selbstbehauptung erzählt auch Kurdwin Ayubs Spielfilmdebüt Sonne. Drei beste Freundinnen (Melina Benli, Maya Wopienka und Law Wallner) werden per Zufall zu Social-Media-Stars, was zu einer recht grundlegenden Konfrontation zwischen muslimischen Familientraditionen und dem Drang der Mädchen ins Offene führt. Berühmt werden die drei mit einer spontanen Performance von „Losing My Religion“, da ist der Ärger natürlich programmiert. Sonne verwandelt sich der Instagram-Ästhetik an, was einerseits authentisch wirkt und andererseits nicht unanstrengend ist, zumal der Film im Verlauf etwas zerfasert. Was wiederum aber auch zu dem passt, was er erzählt, schließlich ist das nicht die Geschichte eines Bildungsromans, sondern eine, die von einem Dazwischen erzählt: zwischen den Kulturen, zwischen Schule, Elternhaus und Party, zwischen der materiellen Wirklichkeit und den sozialen Medien. Da muss man sich zurechtfinden, und das geht nicht ohne Hektik und tendenzielle Reizüberflutung.

Der Weihnachtsfilm der Woche kommt von Dead Snow-Regisseur Tommy Wirkola. Der Weihnachtsmann (David Harbour) gerät in Violent Night in einen Raubüberfall und macht die unartigen Gangster mit dem Hammer und weiteren Gerätschaften platt. Splatter und schwarzer Humor, aber alles im unverbindlichen Partymodus, wie schon Wirkolas zwei Nazizombie-Filme.

Der Kinderfilm der Woche ist eventuell dann doch eher für Erwachsene gemacht: Der kleine Nick erzählt vom Glück handelt von der Entstehungsgeschichte der vor allem, aber nicht nur in Frankreich populären Comicfigur Le petit Nicolas. Was diesen Film nicht zuletzt zu einem animierten Biopic über die beiden Schöpfer der Serie, René Goscinny und Jean-Jacques Sempé, werden lässt. Das Drehbuch hat Anne Goscinny geschrieben, die Tochter von René.