First Female Director Ever

Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché

Alice Guy-Blaché
Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché, 2018, Pamela B. Green

Atemloser, fehlerhafter und dennoch verdienstvoller Film über eine faszinierende Filmpionierin: Alice Guy-Blaché, die allererste Regisseurin der Filmgeschichte, im Porträt.

Mit ihrer Arbeit begann 1897 die Geschichte des Kinos. Alice Guy-Blaché, bis dahin Sekretärin von Léon Gaumont, wurde die erste künstlerische Leiterin der zwei Jahre zuvor gegründeten Filmproduktionsfirma Gaumont. Sie produzierte in den ersten Jahren nahezu alle Filme des Unternehmens, damals noch ohne heutige Arbeitsteilung, also in mehreren Rollen: Regie, Drehbuch, Schnitt, Kamera. 1910 gründete sie ihre eigene Produktionsfirma Solax in den USA. Insgesamt soll Alice Guy-Blaché um die 700 Filme gedreht haben. Dass sie nicht mit den Namen Lumière, Georges Méliès und D. W. Griffith routiniert mitgenannt wird, wenn es um die Frage geht, wer das Kino wann und wie miterfunden und geprägt hat, ist bezeichnend für die Filmgeschichtsschreibung und entsprechend betrüblich.

Bezeichnend, weil die Selbstverständlichkeit, mit der Regisseurinnen und Produzentinnen von Filmhistorikern über lange Zeit ignoriert und beschwiegen worden sind, tatsächlich atemraubend ist. Betrüblich, weil die filmhistorische Lücke nicht nur in geschlechterpolitischer, sondern in filmästhetischer Hinsicht riesig ist.

Kaum jemand hat je von Alice Guy-Blaché gehört.

Der Kinostart von Pamela B. Greens zuerst 2018 in Cannes gezeigtem Dokumentarfilm Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché ist ein schöner Anlass, sich einige dieser Filme wieder anzuschauen. Es ist schon auffällig, wie elegant, präzis getaktet und innovativ diese Bilder heute noch wirken. Und wie sie, en passant, den damaligen kulturellen Status quo spielerisch-ästhetisch attackieren: Geschlechterrollentausch (Les Résultats du féminisme), der erste afroamerikanische Cast in der Geschichte des Kinos (A Fool and His Money), Western-Heldinnen (Two Little Rangers). Auch in filmtechnischer Hinsicht ist ihr Werk immer wieder überraschend: Close-up, Handkolorierung, Special Effects (zum Beispiel in Le matelas épileptique, in dem eine betrunkene Matratze die zentrale Rolle spielt), erste Tonexperimente, Splitscreens – Alice Guy-Blaché hat die Innovationen ihrer Zeit in ihre Arbeit aufgenommen und maßgeblich mitdefiniert.

Vor allem aber machen diese Filme, ganz unabhängig von ihrer filmhistorischen Bedeutung, noch immer großen Spaß. Und der überträgt sich auf das Publikum auch noch in den leider immer viel zu kurzen Ausschnitten, die man in Be Natural zu sehen bekommt.

Nur in zwei Punkten haut der Film daneben. Das eine ist, dass er entweder seinem Sujet oder seinem Publikum nicht so richtig zu trauen scheint. Jedenfalls hat Pamela B. Green sich dafür entschieden, alles, was sie über Alice Guy-Blaché zu berichten weiß – und das ist eine Menge –, atemlos aneinander zu schneiden. Vielleicht aus der Sorge heraus, dass das Material, schwarzweiß und stumm, den Zuschauenden, die entweder mit MTV oder mit Youtube großgeworden sind, ohne Dauerfeuer fad erscheinen könnte.

Außerdem tut Be Natural so, als würde das filmische Werk Alice Guy-Blachés gerade erst entdeckt. Die Suggestion ist verführerisch, aber falsch; wenngleich stimmt, was Greens Werk über die Ignoranz vieler Filmhistoriker zu sagen hat. Nur wird von Seiten der feministisch informierten Filmgeschichtsschreibung seit gut dreißig Jahren gegengesteuert. Und der Name Alice Guy-Blaché ist inzwischen zwar noch nicht kanonisch, aber doch durchweg geläufig bei Menschen, die sich für die Frühzeit des Kinos interessieren.

Die Arbeit von Filmemacherinnen wie Lois Weber, Margery Wilson, Dorothy Davenport, Anita Loos oder Frances Marion wird seit den 1980er-Jahren mehr und mehr gewürdigt, als maßgebliche, in vielerlei Hinsicht Standards setzende Errungenschaften, die man für lange Zeit ihren männlichen Kollegen (und Konkurrenten) zugeschrieben hatte. Entscheidend war hier die Arbeit des britischen Filmhistorikers Anthony Slide, der bereits 1977 das schmale, aber Augen öffnende Bändchen „Early Women Directors“ geschrieben und später die englische Übersetzung der posthum erschienenen Autobiographie von Alice Guy-Blaché herausgegeben hat. Und natürlich die Studien von Filmhistorikerinnen wie zum Beispiel Cari Beauchamp („Without Lying Down: Frances Marion and the Powerful Women of Early Hollywood“), die den (enormen) Beitrag von Regisseurinnen, Produzentinnen und Autorinnen in der Frühphase Hollywoods rekonstruierte.

Was auch die späteren Guy-Blaché-Arbeiten von denen anderer Filmschaffender aus den 1910-er Jahren unterscheidet, ist, dass sie sich die überbordende Spielfreude des frühen Kinos der Attraktionen erhalten haben und zugleich die Potenziale und die Emotionalität des in dieser Zeit entstehenden narrativen Films nutzen und weiterentwickeln konnten. In seinen besten Sequenzen lässt Be Natural die Energie dieser Bilder spürbar werden.

Aber auch wenn man die Prämisse von Be Natural – „Kaum jemand hat je von Alice Guy-Blaché gehört“ – nicht mitgeht, bekommt man einen immens unterhaltsamen und inspirierenden Einblick in das Leben und Schaffen einer faszinierenden Filmemacherin. Die schiere Masse an renommierten – weiblichen und männlichen – Schauspielern, Regisseuren, Historikern und Verwandten, die der Film auffährt, ist beeindruckend. So entsteht in neunzig Minuten das Bild einer Filmemacherin, die mit Leichtigkeit und Begeisterung Witz und Schönheit ins Bild gesetzt hat.

 

Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché
USA 2018, Regie Pamela B. Green, Erzählerin Jodie Foster
Mit Geena Davis, Catherine Hardwicke, Peter Farrelly, Mark Romanek, Peter Bogdanovich, Patty Jenkins u.a.
Laufzeit 103 Minuten