„Machinima“: Einer der Schwerpunkte der diesjährigen Kurzfilmtage Oberhausen beschäftigte sich mit Filmen, die Videospielmechaniken weiterdrehen. Durchaus mit Österreichbezug. Gastautorin Jennifer Borrmann hat sich das für den filmfilter angesehen.
Die österreichische selbsternannte „pseudomarxistische Medienguerilla“-Gruppe Total Refusal zog in der Sektion Thema „Against Gravity. The Art of Machinima“ die Zuschauer:innen direkt in das Jetzt und auf die Metaebenen der Spiele hinein. Nämlich in das – so schien es – für das Gros des Fachpublikums komplett fremde Filmfeld des Machinima (ein Kofferwort, das sich aus machine, animation und cinema zusammensetzt). Da ist viel Raum für Kreativität. Machinima, so die Kuratoren Dmitry Frolov und Vladimir Nadein, sei die Kunstform, die Videospiele verwendet, um Filme in einer virtuellen Echtzeit-3D-Umgebung zu machen. Der Titel ist inspiriert von Experimentalfilmemacher Phil Solomon, der auch mit Stan Brakhage zusammengearbeitet hat. Solomon wechselte gegen Ende seiner Schaffenszeit immer mehr zu Machinima. Bereits in den 1990er Jahren begann er, solche Orte im Spiel zu suchen, zu betrachten, zu inszenieren, die vordergründig nur Nebenschauplätze im Spiel darstellen.
In diesem Sinne nahmen auch Total Refusal und der Künstler Ismaël Joffroy Chandoutis in ihrem interaktiven Startprogramm die Zuschauer:innen mit nach Los Santos, der digitalen Stadt aus dem Spiel Grand Theft Auto V (GTA V). Nicht, um zu spielen, sondern um die Welt und ihre Gegebenheiten, ihre Rückbezüge zur Realität, ihre Avatare, die hyperreale Beschaffenheit des Spiels oder seine NPCs (non-playable characters, also nicht spielbare Figuren) zu kommentieren. Nicht distanziert akademisch, sondern kritisch, aber durchaus mit einer Zuneigung zu Spiel und Gamern. Und dabei immer mit der Aufforderung, das Spiel zu unterwandern, es auch zweckzuentfremden, Fragen zu stellen: Welche Konzepte „leben“ uns die Spiele vor oder spiegeln sie wieder? Spiele beinhalten immer auch Elemente aus der Realität und sind vor allem da kritisch zu hinterfragen. Die Programme und Diskussionen haben aber deutlich aufgezeigt, dass ein Spiel auch selbst in der Wirklichkeit zitiert wird. Es ist plötzlich mehr als eine Reproduktion, ist eigener Referenzboden. So nebensächlich die NPCs im Spiel sind und unablässig unnütze Handlungen ausüben – so wird das Akronym im echten Leben plötzlich für reale Menschen verwendet, in Game-Kategorien gepresst.
Nebenschauplätze
Viele der scheinbaren Nebenschauplätze und ihre NPCs waren die heimlichen Hauptschauplätze der Kurzfilmtage: Safe Spaces (Tracing Utopia, Catarina de Sousa und Nick Tyson, USA, 2021), Räume, in denen niemand mehr ist (Prelude, Eginhartz Kantner, AT 2022, gewesen sein wird / will have been, Sasha Pirker, AT 2022 ), Arbeitsräume, in denen die Schaffensperiode vorüber ist (Bildwerden, Christiana Perschon, AT 2022) oder Privaträume, in denen ein Sex-Blind-Date stattfindet (Blind Date 2.0, Jan Soldat, AT 2022) oder ein Sex-Date durch die Zigarette als Signifikant nur angedeutet wird (TOM & TOM, Dietmar Brehm, AT 2023), unscheinbare Gemeinschaftseinrichtungen (Return Belong Prosper, Katie Davies, UK 2023), leere Hotelflure (Garten Sprengen, Veronika Eberhart, AT 2022) und mysteriöse leere Straßen in Videospielen (Marlowe Drive, Ekiem Barbier, Guilhem Causse, Quentin L’helgoualc’h, F, 2017) und das Nichts an der Grenze des programmierten Spiels.

Marie Foulstons The Grannies (Australien, 2019) rückt einen dieser Nebenschauplätze in den Fokus: das Nichts, aber im gegenteiligen Sinne Michael Endes. Das Nichts ist plötzlich Nährboden für Forschung, für ungewohnte, vielleicht unbequeme Grenzüberschreitungen, die aber immer auch Neues bringen. Die Spieler:innen gehen über Grenzen im Spiel, lassen ihre Figuren auf die Leere ein, die hinter dem gerade noch digital konstruierten Hügel im Spiel beginnt. Danach folgt die digitale Wüste, in der jeder Schritt, jede Handlung unvorhersehbare Konsequenzen, aber auch spielerische, künstlerische und programmiertechnische Neuerungen bringen kann: Es ist die Entdeckung des digitalen Weltalls.
Filmgeschichte
Auch cinephile weniger Game-versierte Zuschauer:innen wurden am Ende abgeholt, als die Kuratoren fünf Machinima-Remakes von Klassikern zeigten, wie The Bowl/La Jatte von Luca Miranda (2019, Italien) der Chris Markers La Jetee zitiert; Rotterdam Tower von Clint Enns (Kanada, 2010), im GTA-V-Stil, ist inspiriert von Andy Warhols 8-Stunden-Ausdauertest Empire. Siding of the Afternoon von Gina Hara (Canada, 2021) zitiert mit Minecraft Maya Derens Meshes of the Afternoon. Oder Porcile von Sid Yandkovka (USA/Schweiz, 2023) verweist mit Unreal Engine auf Pier Paolo Pasolinis Der Schweinestall. Der subversivste unter diesen Filmen ist vielleicht Marlowe Drive (Frankreich, 2017) von Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’helgoualc’h. Er ist inspiriert von Mulholland Drive von David Lynch und nimmt Zuschauer:innen in GTA V mit auf eine entlarvende Interviewreise mit anderen Spielern – ganz im Sinne Phil Solomons.
Annäherungsprozesse und Utopie
Das Thema Machinima webte sich bis in die Wettbewerbe hinein, erweiterte sich inhaltlich und filmkünstlerisch aber freier weiter. Filme wie Tracing Utopia von Catarina de Sousa und Nick Tyson (USA, 2021) über die Wünsche und Vorstellungen queerer Teens, oder Return Belong Prosper über Kriegsveteranen von Katie Davies (UK 2023) machten deutlich, wie wichtig das Gespräch ist über das Verhältnis von erfahrener Wirklichkeit und einer safe space, einem sicheren Bereich, sei es im digitalen Minecraft-Raum oder im analog gemalten Bilderraum. Gerne hätte man die beiden Menschengruppen, so unterschiedlich sie anmuteten, in einem gemeinsamen Gespräch erlebt. Beide mit einem sensibel-kritischen Blick auf eine positive Zukunft in einer belonging Gemeinschaft.
Untitled von Sweatmother (UK, 2022) hält in fester Kadrage einen Dialog zwischen einem Trans-Menschen am PC, den wir nur von hinten sehen, und einer digitalen, weiblich gelesenen Figur auf dem Computer-Bildschirm – die wie Alicia Silverstone in Clueless daher kommt. Der Film kann als Fortführung der Gespräche der Generation Q aus Tracing Utopia gesehen werden, wenn es von der utopischen Vision einer gendergerechten Zukunft nun ganz ernst zu den praktischen Umständen einer Transition geht. Der ca. acht Minuten lange Dialog über Ängste und Befürchtungen in Bezug auf Körper-/Genderzuschreibungen und Lesarten endet im gelassenen Fazit der digitalen Stimme: „Deine Beschreibung eines Körpers ist nicht weniger fabriziert und hergestellt als meine.“ Er hat den Ersten Preis der Jury des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen gewonnen.

Die Wunschvorstellung nach und die kritische Hinterfragung des Jetztzustands auf dem Weg in eine gerechtere und vorurteilsfreiere Welt war auch österreichischen Beiträgen des Wettbewerbs inhärent. C-TV (When I tell you I like you) von Eva Egermann und Cordula Thym (AT 2023), lief Ende März bereits auf der Diagonale in Graz, gewann dort den Preis in der Kategorie Innovatives Kino. Die Filmemacherinnen legen in ihrem campy TV-Studio-Set ihren Blick auf Perspektiven sogenannter Randgruppen: Menschen, die in Bezug auf Körper, Bildung oder Sprache marginalisiert werden. Ein quietschbunter Aufruf für eine bessere Welt. Auch Jan Soldats deutsch-österreichischer Film Blind Date 2.0 (AT 2022), der in Oberhausen seine Erstaufführung feierte, will im Grunde mehr Respekt. Respekt vor dem Gegenüber, sei es der Filmemacher zu seinem Protagonisten Paul oder dieser gegenüber seinem Blind-Sex-Date. Ein sensibler Aufruf für die Einvernehmlichkeit der normalsten Sache der Welt.
Die Ästhetik des Schwarms
Im besten Falle ist so ein Festival mit kurzen Filmen wie ein langes Wochenende mit einer großen Zeitung: Es gibt den Wirtschaftsteil, Politik, Kultur, Literatur, Musik, Wissenschaft etc. Dabei finden sich Teaser, Statements, Essays, Dokumentarisches usw. Die Kurzfilmtage zeigten das außergewöhnliche Potential, Impulse zu setzen und Inspiration zu geben, wie es ein Langfilmfestival kaum zu schaffen vermag. In diesem Jahr standen viele Filme im Programm, die eigentlich für private Bildschirme gedacht sind. Diese Filme haben sich weniger vom Kino emanzipiert, eher bahnen sie sich langsam, aber stetig den Weg in eine größere Öffentlichkeit. Auch in diesem Sinne war es wichtig, den Nebenschauplatz Machinima auf einen Hauptschauplatz zu bringen: ins Kino. Machinima ist in erster Linie aus dem Spaß und dem Teilen eigener Entwicklungen der Gaming-Community entstanden. Eine private, demokratische und gemeinschaftliche Kunstform – wenn Zugang zu Netz und Community besteht – die auf Schwarmintelligenz einer kritischen Interessensgemeinschaft beruht. Das ist am Ende ästhetisch-kritische Cinephilie, wie wir sie uns wünschen. Auch eine schöne Utopie.
Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, 26. April bis 1. Mai 2023
„Forget what you have seen“
Against Gravity. The Art of Machinima