VIP: Very Inventive Person

Streaming-Tipps KW 6

Inventing Anna, 2022, Shonda Rhimes

Auf Netflix wird dieser Tage gelogen und betrogen, was das Zeug hält, aber zumindest gleichberechtigt: von einem Mann in dem investigativen Dokumentarfilm „Der Tinder-Schwindler“, von einer Frau in Shonda Rhimes Serie „Inventing Anna“.

Ob Thomas Manns Felix Krull, basierend auf dem Fin-de-Siècle-Hochstapler Georges Manolescu alias Fürst Lahovary, ob das „Ponzi scheme“ eines Bernie Madoff, welches wiederum auf den Finanzbetrüger Carlo Ponzi zurückgeht, ob Heirats- oder Tinder-Schwindler oder „Air Pussy“-Verkäufer: Geschichten von Gaunern und Tricksern tragen ein fast unerschöpfliches Faszinationspotenzial in sich – solange man nicht selbst einem auf den Leim geht. Wahrscheinlich fragen sich Cecilie Fjellhøy, Pernilla Sjöholm und Ayleen Charlotte bis heute, ob sie sich allzu leicht blenden haben lassen, als sie sich vor ein paar Jahren mit einem eleganten Mann namens Simon Leviev eingelassen haben. Andererseits: Wie aus der neuen Netflix-True-Crime-Doku Der Tinder-Schwindler hervorgeht, hat der ursprünglich in Israel als Shimon Hayut geborene Luxusmarken-Aficionado äußerst gewiefte Taktiken (u.a. einen Impostor-Instagram-Account) angewandt, um seine Love-Scam-Opfer in ein Netz aus Jet-Set-Verführungen, Herzchen-Emojis und Familiengründungsversprechen zu verstricken, aus dem diese sich schließlich selbst nicht mehr befreien konnten.

The times they are a-changin‘: In der schönen neuen Dating-Welt wird der Old-School-Heiratsschwindler zum Schneeballbetrüger und nutzt die Tinder-Wisch-App als Abwurfbasis. Das Geld, das er für seinen Lifestyle zwischen Yacht, Luxushotel und Privatjet und für die Verführung der aktuellen Frau braucht, borgt er sich von der vorigen und hält derweil die vorvorige hin bzw. droht ihr mit seiner „Diamanthändler haben skrupellose Feinde“-Masche, wenn sie allzu aufdringlich ihr Geld zurück will.

Abgesehen von der eher konventionellen Machart des nach Eigenansage „neuen Netflix-Rekordfilms“ (bei Netflix purzeln die Rekorde ja gefühlt jede Woche) von Felicity Morris: Es gibt ein paar hübsche Twists und eine wahre Heldin, die Der Tinder-Schwindler zu einem insgesamt durchaus fesselnden Zweistünder machen (nach der Produktion des Films wurde übrigens weiter recherchiert). Wie viele Mini-Tinder-Schwindler sich so alles auf den Dating-Plattformen herumtreiben, mag frau sich gar nicht ausmalen. Aber wie gesagt, solange man nicht selbst am Leim klebt: Betrüger ziehen immer.

Seltener sind Betrügerinnen, daher ziehen sie noch mehr. (Wo ist die Rekordmeldung von Netflix?) Inventing Anna basiert auf dem Fall der nahe Moskau geborenen Anna Sorokin, welche nach mehreren Stationen in Deutschland, London und Paris als Anna Delvey ein Kunststiftungs-Imperium aufzubauen versuchte und im Oktober 2017 wegen Betrugs verhaftet wurde. Einen Deal der Staatsanwaltschaft, der ihre Freiheitsstrafe gedrittelt hätte, schlug sie aus. Stattdessen handelte sie im Gefängnis mit Netflix einen Deal zur Verfilmung ihrer Geschichte aus. Inventing Anna ist das neunteilige, laut Netflix „leicht fiktionalisierte“ Ergebnis, und Julia Garner, schon in Ozark ein besonders herzhaft freches Früchtchen, ist ein Erlebnis als Luxusmarken-Aficionada mit dem gewissen Selbstbewusstseins-Etwas. Die ersten zwei Episoden versprechen großes Drama und trockenen Witz in ausgewogener Balance; erzählt wird aus der Perspektive der Journalistin Vivian (Anna Chlumsky), die keine Mühen scheut, sich mit der Anna-Delvey-Hintergrundstory verlorene Meriten zurück zu holen, bevor sie mit einer Tochter niederkommt. Ihren Reiz bezieht Inventing Anna nicht zuletzt aus der investigativen Erzählanlage (schrullige Zeitungskolleg:innen von Vivian sorgen dabei für comic relief) und einer Metoo-Metaebene. Doch der etwas formelhaft aufgebaute Plot, der allzu deutliche russische Akzent der Titel-Antiheldin als auch eine ziemlich fake wirkende Szene auf einer Yacht in Folge zwei lassen an der True-Crime-Authentizität und Figurenglaubwürdigkeit der Serie Zweifel aufkommen. Eine gewisse Verwandtschaft zum Fall Bernie Madoffs kann nicht von der Hand gewiesen werden, jener wurde übrigens sehenswert unter dem Titel The Wizard of Lies (2017) mit Robert De Niro und Michelle Pfeiffer von Barry Levinson in Szene gesetzt (flat auf Sky).

Dazugesagt sei: Es geht auch ärger als in den besprochenen beiden „wahren“ Geschichten. Der Franzose Jean-Claude Romand versäumte zunächst nur eine Prüfung, brach dann aber sein Medizinstudium ab und täuschte in den folgenden 17 Jahren seiner Familie vor, er sei ein hochrangiger WHO-Forscher, während er in wechselnden Kaffehäusern Zeitung las oder im Wald spazieren ging. Er lebte von erschlichenem Geld u.a. seiner Schwiegereltern und flog erst auf, als er eine außereheliche Affäre begann. Daraufhin ermordete er seine gesamte Familie und setzte sein Haus in Brand. Nur weil er einen halbherzigen Suizidversuch überlebte und später dem Schriftsteller Emmanuel Carrère seine Geschichte erzählte, gibt es Zeugnis davon. Und hiermit sei zugegeben: So gruselig wie dieses Buch (an der Schnittstelle von Literatur und Tatsachenbericht) kann kaum eine Netflix-Serie sein.

Zum Thema Tarnen und Täuschen noch ein Bonusfilmtipp: Nur noch bis Sonntag haben Prime-Video-Kund:innen die Chance, Under the Skin (2013) nachzuholen, dieses phantasievolle, verführerische, eigenartige und seltsam erotische Ding aus einer anderen Filmwelt. Scarlett Johansson spielt eine Femme fatale wie vom andern Stern, fährt mit dem Lieferwagen durch Schottland und lockt ausgesuchte Männer reihenweise in ein Verderben, das hier als transparent-dunkle Flüssigkeit ausgestaltet ist. Dabei verfolgt sie einen klaren Auftrag. Der erratischen Phantasie des Romanciers Michel Faber entsprungen, verstörend vertont und ins Bild gesetzt mit der inszenatorischen Finesse des passionierten britischen Musikvideoregisseurs Jonathan Glazer – dem wir u.a. auch das Gangsterduell Sexy Beast (2000) verdanken –, begibt sich die Frau auf eine Selbstfindungsreise, gegen die jene des Robotermädels Ava aus Ex Machina, (2014, Alex Garland, ebenfalls Prime Video oder Netflix) geradezu manierlich wirkt. Aber sehen Sie selbst, bevor es zu spät ist! Nur sagen Sie dann nicht, Sie wären nicht vor der nerdigen Note dieses opaken Juwels gewarnt worden!