Colorblind Casting

Eine schwarze Anne Boleyn? Über Sinn und Unsinn „farbenblinden“ Castings.

jodie turner-smith, anne boleyn
Anne Boleyn, 2021, Lynsey Miller

Als der öffentlich-rechtliche, britische Sender Channel 5 im Mai 2021 offiziell bekanntgab, dass die in England geborene schwarze Schauspielerin Jodie Turner-Smith die Titelrolle in der Mini-Serie Anne Boleyn (auf CANAL+) spielen wird, sahen in diesem Colorblind Casting nicht alle einen gelungenen Beitrag zu mehr Diversity. Im Telegraph nannte die Autorin Marianka Swain die Besetzung „ziemlich zynisch“ und schrieb, es sei darauf ausgelegt, „Twitter zum Schäumen zu bringen, anstatt etwas zu unserem Verständnis einer Ära hinzuzufügen“. Wobei die Autorin auch an weiteren Gimmicks neuer Historiendramen kein gutes Perückenhaar lässt.

Twitter schäumte tatsächlich. Hobby-Historiker:innen erinnerten freundlicherweise alle daran: Anne Boleyn, die vermeintlich ehebrecherische Frau, die König Heinrich VIII. von England dazu verführte, seine Frau und seine Kirche zu verlassen, bevor sie 1536 enthauptet wurde, war eigentlich weiß und sollte daher von einer weißen Schauspielerin gespielt werden. Und ein Twitteraner kommentierte: „Historical figures should be played by the actors of the same colour, IMO. That shouldn’t be too controversial, what would be said if Nelson Mandela was played by Colin Firth for example?“.

Vorläufig wirft die Idee interessante Fragen auf. Bedeutet keine Hautfarbe zu sehen, nicht auch die besonderen Erfahrungen Menschen anderer Hautfarbe zu ignorieren? Im Jahr 2015 besetzte die Royal Shakespeare Company Lucian Msamati, einen Schwarzen, als Iago in Othello. Joel Coen hat in seiner (schwarzweißen, und doch farbenblinden) Macbeth-Adaption Denzel Washington mit der Rolle des schottischen Königsmörders betraut. Aber kann man im Umkehrschluss den dunkelhäutigen Feldherren Othello mit einem weißen Schauspieler besetzen?

denzel washington, macbeth
Denzel Washington als Macbeth

Im Theater ist das Konzept des Colorblind Casting, der „farbenblinden“ Besetzung, schon länger etabliert, aber auch im Film sieht man heute immer öfter Schauspieler und Schauspielerinnen in Rollen, in denen sie lange nicht vorgesehen waren. Bereits 1997 gab es eine (zu vernachlässigende) Musicalversion von Cinderella, in der Whitney Houston die gute Fee, die Sängerin Brandy Aschenputtel und Whoopi Goldberg die Königin spielten. Dev Patel, Sohn indischer Eltern, spielte 2019 den Helden in Armando Iannuccis The Personal History of David Copperfield. Und dann war da natürlich die Netflix-Serie Bridgerton, die das Bild einer blütenweißen, englischen Gesellschaft um 1820 ordentlich auf den Kopf stellte. Am meisten Aufsehen dürfte wohl die Besetzung der Rolle von Königin Charlotte mit der guyanisch-britischen Schauspielerin Golda Rosheuvel erregt haben. Die Macher der Hit-Serie berufen sich dabei auf die These, dass Sophie Charlotte von Mecklenburg-Strelitz auch in Wirklichkeit die erste „farbige“ britische Königin war, weil neun Generationen vor ihr eine portugiesische Adlige afrikanischer Herkunft in ihrem Stammbaum steht.

Aber während die Figuren in Bridgerton fiktiv sind, spielen im Dreiteiler Anne Boleyn nicht-weiße Schauspieler:innen mehrere weiße historische Figuren. Jodie Turner-Smith, die bereits eine Hauptrolle in dem sehr unterschätzten Film Queen & Slim hatte, wurde für ihre Darstellung der englischen Königin zurecht gelobt. Das Colorblind Casting soll dafür sorgen, dass sich mehr Zuschauer:innen vertreten fühlen. Wirklich farbenblind ist es aber natürlich nicht. Eine schwarze Anne Boleyn, das ist ein Statement. Es ist ein Kunstgriff, und es bleibt die Frage, was damit erreicht werden soll. Anne Boleyn sah natürlich auch nicht aus wie Natalie Portman, die die Figur in The Other Boleyn Girl spielte. Aber ich frage mich, warum wir das Gefühl haben sollten, als Gesellschaft „Fortschritte“ gemacht zu haben, weil eine dunkelhäutige schwarze Schauspielerin die Mutter einer zukünftigen Königin porträtiert, welche Englands Eintritt in den transatlantischen Sklavenhandel erleichterte, der wiederum verheerende Folgen für den afrikanischen Kontinent hatte? Es dürfte nicht mehr als ein Versuch sein, mit einer Casting-Entscheidung Aufmerksamkeit zu erregen.

Der afroamerikanische Dramatiker August Wilson meinte schon 1996, es sei wenig damit gewonnen, afroamerikanische Schauspielerinnen und Schauspieler die „weißen Klassiker“ spielen zu lassen. Er hielt es für eine „abwegige Idee“ und ein Symptom des eurozentrischen Kulturimperialismus, den es eigentlich zu tilgen gelte. Es gehe vielmehr darum, schwarzes Theater und seine Dramatiker zu fördern.

Wir leben in einer aufregenden Zeit für schwarzes historisches Geschichtenerzählen in Film und Fernsehen, von Steve McQueens Small Axe-Serie bis zu Barry Jenkins eindringlich schöner Serie The Underground Railroad (beides auf Amazon). Sarah Forbes Bonetta, die nigerianische Prinzessin, die im England des 19. Jahrhunderts die Patentochter von Königin Victoria wurde, wird von Cynthia Erivos gespielt werden. In dem Geschichtsdrama The Woman King, das noch in diesem Jahr in die Kinos kommt, spielt Viola Davis eine Kriegerin von Dahomey, die sich gegen die französische Invasion wehrt. Verlassen wir uns lieber weniger auf das historische England und mehr auf andere Geschichten, in denen es viel mehr großartige schwarze Frauen darzustellen gibt.