Coppa Cate

Cate Blanchett brilliert als Chefdirigentin Lydia Tár – im Kino.

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Tár, 2022, Todd Field © Focus Features

„Tár“: Geniale Machtstudie im Klassikmilieu mit Metoo-Mehrwert von Todd Field, mit Cate Blanchett in einer Oscar-Favoritinnenrolle – jetzt in AT und DE im Kino.

Die erste Einstellung: Sie steht in den Kulissen, angespannt, verdichtet; pure Konzentration, die sich äußert in Tics: flüchtige, kleine Berührungen von Haar, Kleidung und Haut, unregelmäßiger, stoßweiser Atem, Zucken im Gesicht. Eine Assistentin kommt, reicht ihr ein Glas Wasser und eine Tablette; schließlich strafft sie sich, holt Luft – und schreitet mit jenem unvergleichlichen, weit ausgreifenden, raschen und keine Zweifel erlaubenden Cate-Blanchett-Schritt auf die Bühne und in den aufbrandenden Applaus hinein, als wäre sie einer der Wagenlenker in Ben Hur. Was wir darüber hinaus nun noch wissen: Dass sie der Boss ist, hat nicht nur den Preis eiserner Selbstdisziplin.

Cate Blanchett spielt die Titelfigur in Todd Fields aktuellem Film, der so unendlich lange auf sich hat warten lassen: die Dirigentin Lydia Tár, die sich in besagter Szene auf die Bühne schleudert, um im Rahmen eines Werkstatt-Gesprächs mit einem renommierten Fachpublizisten über ihre Karriere zu sprechen. Als Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker steht Lydia Tár im Begriff, einen unter ihrer Leitung eingespielten Zyklus der neun (vollendeten) Sinfonien von Gustav Mahler mit der Aufnahme der Fünften zu vollenden. Diese Einspielung ist sozusagen ihr Lebenswerk, ein Respekt gebietendes Mammutunterfangen, das zugleich die Fallhöhe anzeigt, aus der Tár im weiteren Verlauf stürzt.

hoss, tár
Nina Hoss

Zunächst aber steigt der Film ohne lange zu fackeln in eine musikologische Debatte auf hohem Niveau ein. Die Dirigentin und der Fachmann tauschen lange und komplizierte Sätze aus, die von komplexen Sachverhalten handeln. Die Zuschauerin schaut und lauscht und kann es nicht glauben, dass sich das einer traut. Das Publikum wird gefordert: Hört zu! Denkt mit! Schaut euch das an! Überlegt! Nehmt dies! Denkt weiter! … Dass man das, nach all dem vorgekauten Brei, der seit allzu langer Zeit schon die Leinwände mit Beschlag belegt, noch erleben durfte! Und schon stürzt man sich auf diese Lydia Tár wie ein Verdurstender in der Wüste in ein Wasserloch – komplexe Frauenfigur, juchu! –, nur um sodann festzustellen, dass dieses Wasser vergiftet ist und dieser Brocken nicht zur Identifikation taugt, mithin das Thema Emanzipation/Gleichberechtigung von Field in Tár etwas anders (an)gefasst wird.

Denn wie kommt man – im vorliegenden Fall: frau – überhaupt dort oben hin, in diesem von Überheblichkeit und Unterwürfigkeit gleichermaßen geprägten Betrieb, in dem der Begriff „Maestro“ respektive „Maestra“ mehr als nur „Chef(in)“ ausdrückt? Welche Mechanismen stützen die steile(n) Hierarchie(n) und ermöglichen die Machtfülle? Wie wiederum wirken sich Machtfülle und Ungleichverteilung auf die einzelnen Rädchen im Getriebe aus? Und was zermahlen eigentlich die großen Räder, die von den kleinen ja gestützt, wenn nicht eigentlich angetrieben werden?

blanchett, tár
Cate Blanchett

Dass der Klassikbetrieb nicht frei von Weinsteinen ist, weiß man inzwischen, und damit auch, dass es bei der sogenannten Hochkultur und ihrer Sekt schlürfenden Klientel nicht besser zugeht als bei Kreti und Pleti, die Superheldenfilme schauen und Popcorn dazu mampfen. Macht ist, so Field mit Tár, überall ein Problem. Und Macht korrumpiert auch nicht nur Hetero-Männer; weswegen es hier eine lesbische Frau ist, die sich des Missbrauchs und der Übergiffigkeit schuldig macht. Dabei geht es nun genau nicht um eine vom Mann an die Frau gebrachte Retourkutsche mit der Aufschrift „Ihr seid auch nicht besser“, sondern es geht vielmehr um die Entlarvung der Struktur, die beide Geschlechter gleichermaßen korrumpiert.

Das ist, grob umrissen, das Themenfeld, das Todd Field, der mit Tár erstmals ein eigenes Originaldrehbuch verfilmt, sich vorgenommen hat, und das er in Gestalt der Geschichte über den fall from grace einer Lichtgestalt unter die Lupe nimmt. Jene berüchtigte Field’sche Lupe wohlgemerkt, die gnadenlos und unerschrocken Laster, Schwäche und Elend in den Blick nimmt, allenfalls mit einer etwas verhaltenen Belustigung und auch nur manchmal auf das erbarmungswürdige Treiben des Untersuchungsgegenstandes reagierend.

Dass Cate Blanchett sich unter diese Lupe legt respektive ihre Charakterisierung der Lydia Tár zur Sektion anbietet, dürfte eine der weisesten Entscheidungen ihrer an gescheiten Entscheidungen ohnehin nicht armen Laufbahn sein. Diese Figur vergisst nicht, wer sie einmal gesehen hat; sie ist vollendet gestaltet. Sie stößt uns ab und zieht uns an und in ihren Bann und speit uns aus, wir verstehen ihre Leidenschaft, ihre Berufung, ihre Größe und ihre Jämmerlichkeit. Und weil bekanntlich das Rad nicht ein weiteres Mal erfunden zu werden braucht, wenn es andernorts eh schon wunderbar rollt, sei hier zum guten Schluss aus dem Venedig-Bericht von Kollegin Jessica Kiang (Film Comment) zitiert, wo Tár vergangenes Jahr seine Uraufführung feierte und Blanchett, logisch, die Coppa Volpi als Beste Darstellerin erhielt.

„She is also, put simply, a monster: a rapacious, oblivious serial predator, whose assumption that her genius entitles her to staggering cruelty has never been challenged. For over a decade I’ve wondered, off and on, when we would get a female movie character to equal the ferocity, charisma, and monumental destructive narcissism of There Will Be Blood’s Daniel Plainview. Though the two films could not be more different, I think I can stop wondering now. Lydia Tár would drink your milkshake without ever thinking it might not be hers to drink.“

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Weiterführende „Informationen“ auf Lydia Társ Website.

 

Tár
USA 2022, Regie und Buch Todd Field
Mit Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss
Laufzeit 158 Minuten