Verlorene Illusionen

Neu im Kino KW 51/52 (DE)

Giannoli, Voisin, Verlorene Illusionen
Illusions perdues, 2021, Xavier Giannoli

Verlorene Illusionen, Eselsohren, Oskars Kleid, Whitney Houston, Edgar Allan Poe, Ennio Morricone, der letzte Wunsch eines gestiefelten Katers: Das Kinojahr endet schön und gut und bunt.

Ein Kritiker-Liebling der vergangenen Festival-Saison war EO, Jerzy Skolimowskis Neuinterpretation (nicht Remake) von Robert Bressons Meisterwerk Zum Beispiel Balthazar. Die Passionsgeschichte eines Tiers als unspezifische Metapher, mit denen Zuschauerin und Zuschauer eigene Emotionen verbinden können. Wundervoll gefilmt, nicht zuletzt. Unsere Kritik von EO finden Sie hier.

Menschlich-allzumenschlich geht es dagegen in dem Historiendrama Verlorene Illusionen zu, einer Verfilmung von Balzacs gleichnamigen Roman. Dessen fast tausend Seiten haben Regisseur Xavier Giannoli und sein Co-Autor Jacques Fieschi auf den basalen Plot reduziert, die grundlegende Idee aber bleibt erhalten: Anhand des Pariser Pressewesens wird eine Momentaufnahme im Frankreich des 19. Jahrhunderts konstruiert. Und im weiteren Sinne eine Zeiten übergreifende Geschichte von gesellschaftlichen Zwängen, Aufstieg und unvermeidbarem Fall. Unsere Besprechung von Verlorene Illusionen finden Sie hier.

Gesellschaftliche Zwänge ergreifen auch Denken und Fühlen des von der Mutter seines Sohnes getrennten Vaters Ben (Florian David Fitz). Ben nämlich kommt nicht damit zurecht, dass Oskar (Laurì) gerne Kleider trägt und gar kein Sohn ist, sondern eine Tochter, Lili. Hüseyin Tabak, der bereits mit Filmen wie Deine Schönheit ist nichts wert und Gipsy Queen einen sehr empathischen Blick für Außenseiterfiguren an den Tag gelegt hat, erzählt in Oskars Kleid von Irritation, Abwehr und einer Verwandlung – einer Verwandlung nicht nur des Kindes, sondern auch des Vaters. Und das alles in einem heiteren, gelösten Ton, der der Gender-Debatte viel von ihrer Schwere nimmt.

Klassisches Thriller-Material mit einigen Verweisen und Anspielungen fährt Der denkwürdige Fall des Mr. Poe auf (schöner Originaltitel: The Pale Blue Eye). Christian Bale untersucht im dunkel-verschneiten Staat New York einen angeblichen Selbstmord, der sich bald als Ritualmord entpuppt. Unterstützt wird der Ermittler von einem jungen Kadetten, Edgar Allan Poe… Regisseur Scott Cooper (Out of the Furnace, Hostiles, beide ebenfalls mit Bale in der Hauptrolle, Antlers) zeichnet erneut ein sehr finsteres, in diesem Fall gothic anmutendes Bild der USA. Hier geht’s zum Trailer, nach den Weihnachtsferien erscheint die Romanadaption dann schon auf ihrer Produktionsplattform Netflix.

Zweimal Musik: Das Biopic Whitney Houston: I Wanna Dance With Somebody erzählt Aufstieg (eine unglaublich hohe Zahl verkaufter Alben und Singles, „I Will Always Love You“) und Fall (Ehe mit Bobby Brown, Drogen) der Titelheldin als tragische Heldinnengeschichte.

Ruhiger geht es in dem Dokumentarfilm Ennio Morricone – Der Maestro zu. Der wohl produktivste Soundtrack-Komponist, dessen Werk ohne nennenswerte Ausreißer nach unten monolithenhaft in der Landschaft steht, ist hier bei der Arbeit und in vielen Interviews zu sehen. Begleitet von durchweg Bewunderung erkennen lassenden Zeitgenossen wie Bernardo Bertolucci, Oliver Stone, Quentin Tarantino, Hans Zimmer. Und Bruce Springsteen.

Der Kinderfilm der Woche ist zugleich auch einer der unterhaltsamsten Filme, die in diesem Jahr noch in die Kinos kommen. Der gestiefelte Kater 2: Der letzte Wunsch schließt an den bislang unerklärlicherweise sequel-los gebliebenen ersten Teil (2011). Der erschien zur Hochzeit des alle Alterklassen abholenden Kinderfilms der Pixar-Schule, als Shrek-Spin-off, welches das ursprüngliche Franchise in Sachen Tempo, Wortwitz und vor allem Animationskunst noch übertraf. Sieht wieder äußerst vielversprechend aus.

Und ein kurzer Ausblick auf die letzte Dezemberkinowoche: Was man von hier aus sehen kann setzt ganz auf wehmütige Skurrilität. Ein Bild der deutschen Provinz, die hier als Ort des magischen Realismus gefasst wird: Aberglaube, wahrsagerische Träume vom Tod, Amélie-artige Figuren, die meist irgendeinen ulkigen oder unheimlichen Sockenschuss haben, aber am Ende doch fast allesamt liebenswert erscheinen.

 

Wir wünschen ein frohes Fest, schöne Feiertage sowie einen guten Rutsch und melden uns wieder mit der nächsten Kinovorschau am 5. Januar 2023!