Erdbeobachtung mit Eselsohren

Einfühlung par excellence: „EO“ von Jerzy Skolimowski – im Kino

Skolimowski, EO
EO, 2022, Jerzy Skolimowski

„EO“: Am Beispiel des titelgebenden Esels zollt Jerzy Skolimowski einer fundamental anderen Lebensform unseres Planeten, deren Beseeltheit wir nicht mehr wahrnehmen, seinen Respekt.

Warum heißt dieser Esel eigentlich EO? Als Abkürzung kann EO allerhand bedeuten, von Elektrotechnikoffizier (an Bord von Marineschiffen) über Executive Order (gegeben von amerikanischen Präsidenten und Gouverneuren) bis hin zur Entgeltordnung (festgelegt in Tarifverträgen für den öffentlichen Dienst). EO steht aber auch für das Wort „Erdbeobachtung“ (Earth Observation) und damit für den Blick von Weitweg aufs Große Ganze. Im Allgemeinen werden zur Erdbeobachtung Satelliten eingesetzt, deren erhobene Daten den Geowissenschaften zugute kommen; freilich kann mit Hilfe von Satelliten auch spioniert werden.

Der Blick von EO, dem Titelhelden der aktuellen Arbeit des polnischen Künstlers und Filmemachers Jerzy Skolimowski (geboren 1938 in Łódź), ist kein heimlich durchs Schlüsselloch geworfener; der Esel hat auch keine verborgene Agenda wie beispielsweise einen Machtwechsel und damit das Ende der menschlichen Terrorherrschaft herbeizuführen. Allenfalls würde EO sich wohl gerne wieder geborgen fühlen und wertgeschätzt; so wie damals im Zirkus, als er gemeinsam mit der Tänzerin Kasandra (Sandra Drzymalska) auftrat, die ihn gestreichelt hat und liebkost und die seinen Namen zärtlich in seine haarigen Langohren flüsterte. Aber dann kamen die Tierschützer und meinten es gut und die Zirkustiere wurden beschlagnahmt und an unterschiedlichen geeigneten Orten untergebracht. So gelangte EO auf ein Pferdegestüt, wo ihm eine herrliche Schimmeldame dergestalt den Kopf verdrehte, dass er Reißaus nahm. Dies zumindest meine Interpretation der dortigen Vorgänge, denn wir können ja nicht wissen, und auch Skolimowski weiß es nicht, was in des Esels Hirn vorgeht.

Skolimowski, EO
Hola, Tako, Marietta, Ettore, Rocco oder Mela als EO

Zwar versucht Michał Dymeks Kamera (sowie die zusätzlichen von Paweł Edelman und Michał Englert) unermüdlich, seinen Blick einzufangen, aber selbst wenn er – beziehungsweise einer der sechs sardischen Esel, die EO verkörpern: Hola, Tako, Marietta, Ettore, Rocco und Mela geheißen – in die Kamera schaut, sehen wir doch nicht mehr, als den Blick des Fremden, eines Tiers, einer fundamental anderen Lebensform. Oder vielmehr: jener anderen Lebensform, die wir uns derart entfremdet haben, dass wir ihr beseeltes Sein nicht mehr wahrnehmen, nur noch ihren Nutzen.

Skolimowskis Film – der dies Jahr im Wettbewerb von Cannes uraufgeführt wurde und (ex aequo mit Le otto montagne) den Preis der Jury erhielt – fügt sich ein in eine Reihe von Arbeiten, in denen versucht wird, über diesen menschenverschuldeten Abgrund hinweg wieder Kontakt herzustellen zu den Mitgeschöpfen. Sowie ihnen dabei jenen Respekt entgegenzubringen, der ihnen gebührt, jedoch allzu lange schon verweigert wird. Kürzlich unternommen haben dies, um die beiden wichtigsten zu nennen, Victor Kossakovsky in Gunda (2020) am Beispiel eines Hausschweins und Andrea Arnold in Cow (2021) am Beispiel einer Milchkuh (unsere Besprechung). Diese gnadenlos bitteren Filme stehen in einem scharfen Kontrast zu jenen zahllosen modischen Naturdokus, welche die im Anthropozän verglimmende Schönheit unseres Planeten mit viel Pathos, nicht weniger Kitsch und unter Aufbietung des gesamten Arsenals des Überwältigungskinos ein letztes Mal abfeiern. Nichts davon hier, wo sich selbst der preisgekrönte avantgardistische Score von Paweł Mykietyn und die visuelle Experimentierfreude des Kamera-Trios demütig dem Versuch der Einfühlung unterordnen.

Freilich erinnert EO, der Film über den Esel, der unter die Menschen fiel, an Robert Bressons Meisterwerk Au hasard Balthazar aus dem Jahr 1966. Wo jedoch Balthazar für Bresson wie eine thematische Aufhängevorrichtung für unterschiedliche Aspekte der Conditio Humana fungiert, da liefert EO bei Skolimowski die Perspektive auf Facetten der Conditio Animalis: EOs Reise – die vom Zirkus ins Gestüt in den Streichelzoo auf eine Pelztierfarm und darüber hinaus führt und während derer er unterschiedliche Inkarnationen vom Arbeitstier über das Maskottchen bis zum Fleischlieferanten durchläuft – kann, nein, muss auch als Kreuzweg gelesen werden.

Am Ende schließt EO sich einer des Wegs kommenden Herde Kühe an – endlich andere Vierhufer! Verwandte sozusagen. Er hätte das freilich nicht tun sollen. Die Kiefer des mächtigsten Monsters, das der Mensch ist, zermahlen unterschiedslos und ohne Mitgefühl ALLES. Erst recht einen ver(w)irrten Esel.

 

EO
Polen/Italien 2022, Regie Jerzy Skolimowski
Mit Sandra Drzymalska, Isabelle Huppert, Lorenzo Zurzolo
Laufzeit 86 Minuten