Arbeit und Politik

Anlässlich des Kinostarts von „Unruh“: der eigenwillige Ansatz von Cyril Schäublin

Schäublin, Unruh
Unrueh, 2022, Cyril Schäublin

„Unruh“: Die Filme des Schweizer Regisseurs Cyril Schäublin gehören zum Ungewöhnlichsten, was man im Kino der jüngsten Zeit zu sehen bekommen hat.

Cyril Schäublins Art zu filmen könnte eine naheliegende sein. Wäre nämlich die Filmgeschichte bei dem Strang geblieben, der sich von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke aus entwickelt hat. Anstatt spätestens mit D.W. Griffiths Birth of a Nation unwiderruflich in Richtung Dreiakter, Drama und unsichtbarer Schnitt abzubiegen. Die Bilder in Schäublins Filmen zeigen einfach, ohne Dramaturgie, also mit einer bewussten Nicht-Dramaturgie, die sich immer in Abgrenzung zu dem entwickelt, was als konventionell im narrativen Kino internalisiert ist. Und trotzdem sind diese Bilder in einem hohen Maße konstruiert. Die Figuren sind da situiert, wo sie, würde man von Birth of a Nation und also von Hollywood her denken und filmen, nicht hingehören: am unteren Bildrand oder auch dezentriert verteilt über die gesamte Bildfläche. Musik gibt es nicht, wie überhaupt Emotionslenkung oder auch nur Zuschaueremotionen das Interesse dieser Filme nicht sind – ob es Spielfilme sind oder Experimentalfilme oder einfach beides, ist auch nicht ohne Weiteres auszumachen.

Trotzdem verbreiten Cyril Schäublins Filme natürlich Atmosphären, schlicht weil jedes Bild, auf seine Weise, eine Atmosphäre abstrahlt. Der erste Eindruck, der sich aufdrängt, wenn man sich in die Welt von Unruh, dem zweiten Film Schäublins, hineinbegibt, ist der einer schwebenden Leichtigkeit. Die hier aber nichts Slackerhaftes hat, also nicht aus einer betont nachlässigen Inszenierungsweise kommt, sondern aus formaler Strenge und Genauigkeit, paradoxerweise.

Der zweite Eindruck: So montiert man, wie gesagt, keine narrativen Filme und so montiert man dementsprechend auch keine Historienfilme. Schäublin zeigt seine Figuren überwiegend in Totalen. Der Anarchist Piotr Kropotkin (Alexei Evstratov) beispielsweise schiebt sich bei seinem ersten, betont unspektakulären Auftritt unten am Bildrahmen entlang, ab dem Bauchnabel abgeschnitten. Das Umfeld der Figuren dominiert das Bild als Hintergrund, was sie klein erscheinen lässt – aber eben deswegen nicht unwichtig oder unbedeutend.

Unruh, Schäublin

Die Verkleinerung der Figuren in einem Film, der von der Entstehung der anarchistischen Bewegung im Schweizer Jura-Tal des Jahres 1877 erzählt, soll hier nicht strukturalistisch die Irrelevanz des in die sozialen Zwänge eingespannten Subjekts verbildlichen oder etwas in der Art. Die anderen Lieblingseinstellungen Schäublins sind Close-up und extremes Close-up. Immer wieder fährt die Kamera auf die Gesichter der Fabrik-Arbeiter:innen, die Uhren fabrizieren und sich in einem anarchistischen Verband organisieren. Es ist nichts Dramatisches an dieser Art zu filmen, die Bilder und Dialoge fließen in Unruh ruhig dahin. Unmöglich, nach dem Sehen zu sagen, wie lange dieser Film gedauert hat, anderthalb Stunden oder drei.

An der Zeit als einem Sujet des Films entfaltet sich dann auch der Konflikt, der hier aber in aller Ruhe und geradezu bedächtig in Szene gesetzt wird. Konservatismus und Anarchismus stehen einander gegenüber in einer Welt, in der verschiedene Zeitmessungen nebeneinander stehen, die amtliche Zeit, die Fabrikzeit und noch weitere. Vielleicht ist es das, was an diesem Film, der zuerst vielleicht wirken mag wie ein filmisches kopflastiges Experiment, sehr berührt: Unruh zeigt Bilder einer Welt, in der die Entscheidung für eine vor allem anderen marktförmig organisierte Gesellschaft noch nicht unwiderruflich gefallen ist. Was Zeit ist, wie Arbeit organisiert werden soll, das ist hier noch offen.

Und diese Offenheit findet ihre Entsprechung in der dezentralisierten Komposition der Bilder wie auch in der Entscheidung, einen Ensemble-Film zu drehen. Dafür sehen wir viele Figuren, immer an der Rändern, außer, wenn die Kamera ganz nah rangeht. Besonders nah wird es, wenn die Details der Uhrenproduktion ins Bild rücken. Da wirkt der Blick dann geradezu verliebt. Zentrale Metapher, wenn man so will, ist die Unruh, ein Schwingsystem, das den in der Fabrik produzierten Taschenuhren ihre Präzision verleihen soll.

Ein Ensemblefilm ist auch Schäublins Langfilmdebüt Dene wos guet geit, erschienen 2017. Im Zentrum ein Callcenter und die Straßen Zürichs, in ganz gegenwärtigem Grau. So etwas wie einen Plot gibt es auch: Eine Callcenter-Angestellte nutzt die beruflichen Kontakte, um Seniorinnen per Enkelinnentrick abzuziehen. Aber das verläuft sich und ist auch in keiner Weise spannend (auch wenn tatsächlich ermittelnde Instanzen auftreten). Stattdessen kreisen die Dialoge aller Beteiligten um günstige Krankenkassen- und Handytarife.

Man kann nach Menschen oder auch Dingen in diesen Bildern suchen, die die hier zum, naja, Leben erweckte Gegenwart irgendwie lebenswert machen würden. Man wird nichts finden. Am Ende erzählt eine Polizistin von einem Film, in dem Terroristen eine Bank ausnehmen. An den Titel kann sie sich nicht erinnern, der Plot klingt in ihrer Zusammenfassung wirr, und auch wie die Musik klingt, weiß sie nicht mehr. Die Szene ist einer der komischen in Dene wos guet geit, sie verweist zudem auf die gängige Weise, Filme zu machen – und sie tippt so etwas wie eine Hoffnung an. In der Welt, die dieser Film zeigt, wäre ein Terroranschlag eine zumindest emotional verständliche Wunschphantasie. Dann käme wenigstens etwas in Bewegung.

Vielleicht nicht die erste, aber eine der vielen Fragen, die Unruh und Dene wos guet geit nahelegen: Ist das jetzt schon dialektisches Kino? Jedenfalls scheinen die Bilder in Gegensätzen gedacht und montiert, und bestimmt von dem Versuch, mit den Mitteln des Films etwas über Arbeit und Politik und die Geschichtlichkeit von Beidem zu formulieren. Das Ergebnis ist ein politischer Film, der um die Schwierigkeiten weiß, die entstehen, wenn man von Arbeit, Politik und Geschichte erzählen will, in vollem Ernst.

Schäublins Filme kommen ohne selbstreflexive Dauerironie aus, ohne den Fluchtweg also, den etwa Julian Radlmaier (Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes, Blutsaugerhier unsere Kritik), der zweite Reanimateur des politischen Films zurzeit, gewählt hat. Es sind analytische Filme, die ihr Denken nicht primär über Dialoge, sondern in der Montage entfalten. Und die mit Leichtigkeit sowohl die oft bleierne Schwere des politisch engagierten Essayfilms wie auch die Flunkereien und Suggestionen des Erzählkinos umschiffen und so, wie nebenbei, einen wirklich neuen, bislang ungekannten Ton finden.