Der V-Effekt

Amüsant und erhellend: „Blutsauger“, jetzt auch in AT im Kino

Blutsauger, Stangenberg, Herbst
Blutsauger, 2021, Julian Radlmaier

Julian Radlmaiers Vampirkomödie „Blutsauger“, mit Lilith Stangenberg in der Rolle eines gebildeten Fräuleins, überzeugt mit Witz, Marx und Theoriefestigkeit.

„Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.“ So liest man es sich am Ostseestrand vor im Marx-Lesekreis, der Julian Radlmaiers sehr lustigen zweiten Langfilm Blutsauger eröffnet. Und dann natürlich gleich, es ist ein Marx-Lesekreis, das Festbeißen an einem Satz: Ob das denn nun eine Metapher sei oder ob nach Marx die Kapitalisten wirklich Vampire …

Der Lesekreis tendiert zu: Metapher. Blutsauger wiederum nimmt Marx beim Wort. Als die Fabrikantentochter Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) ihr schönes Gebiss in den Hals ihres in sie eh schon verliebten „persönlichen Assistenten“ („Diener“ soll man ihn nicht nennen, Octavia befürwortet das Moderne) Jakob (Alexander Herbst) versenkt, erfolgt die Bestätigung.

Radlmaier weiß, wenn man einen Film über kapitalistische Blutsauger, proletarische Lesekreise und in Fabrikantinnen verliebte Diener drehen will, der nicht lügt, geht das nicht mehr unmittelbar, sondern nur im Rückgriff auf die Tradition des revolutionären Kinos, die heute nicht einfach bruchlos weitergeführt werden kann. Das alles soll 1928 spielen, gleichwohl fährt Octavia mit einem eindeutig der Gegenwart zuordenbaren Motorrad an den Strand und auch sonst kommen die Zeitebenen schön ins Schillern. Ein Brecht’scher V-Effekt. Oder besser noch: das Zitat eines V-Effekts.

Stangenberg et al in: Blutsauger
Daniel Hoesl, Lilith Stangenberg, Aleksandre Koberidze

Die Figuren in Blutsauger sagen ihre Sätze auf, als würden sie sie ablesen, weitgehend ausdruckslos, und Schauspielerinnen wie eben Stangenberg oder Corinna Harfouch dabei zuzuschauen, wie sie sozusagen spielen wie sie ihre Figuren spielen, das macht schon großen Spaß.

Die eigentliche Hauptfigur ist der aus der Sowjetunion geflohene Schauspieler Ljowuschka (Aleksandre Koberidze), der in Eisensteins Oktober Trotzki spielen sollte, dann aber, die Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen, aus dem Film herausgeschnitten wurde, weil Stalin das so wollte. Besonders gut gefallen Ljowuschka die Pausen beim Dreh, und er verlässt die Sowjetunion, um in Hollywood groß rauszukommen. Er verliebt sich in die Gräfin, das Motorrad wird geklaut, der Marx-Lesekreis zerstreitet sich, geht aber am Ende dann doch noch mit dem Kleinbürgertum des Ostseeörtchens auf Vampirjagd.

Aber der Plot ist egal, Blutsauger geht es scheint’s vor allem darum, in einer Abfolge von Einzelszenen gemeinsam mit dem Zuschauer darüber nachzudenken, wie man nach dem notwendigen Scheitern des revolutionären Kinos (gescheitert, weil die Revolution ausgeblieben ist) noch im und mit dem Film über ein revolutionäres Kino nachdenken kann. Was man also heute, gröber gesagt, noch anfangen kann mit Eisenstein, Godard, und Straub/Huillet, vielleicht auch Fassbinder und eventuell auch Schlingensief (Mutters Maske wird Radlmaier wahrscheinlich gesehen haben). Ohne dabei die unfreiwillige Komik, die in der Geschichte dieses revolutionären Kinos immer wieder aufblitzt, zu negieren.

Der erste Eindruck, den man schon bei Radlmaiers Langfilmdebüt Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes bekommen konnte, nämlich dass sich hier einer über diese Tradition lustig macht, täuscht. Eine deutschsprachige Komödie, die nicht auf Haha und Schenkelklopfen setzt, sondern den Witz ernst meint und den Ernst schnell komisch werden lässt – das ist mehr, als man sich eigentlich erhoffen kann. „Im Komischen blitzt etwas auf, da gelingt vielleicht eine Kombinatorik, wo etwas drin stecken könnte“, hat Julian Radlmaier im Interview mit Bert Rebhandl erzählt. Und: „Ich würde heute schon sagen, im Marxismus steckt ein Erkenntnisweg drin.“ Auch in Blutsauger ist alles, was auf die Tradition des revolutionär gestimmten Kinos verweist, auch das Brecht’sche, gebrochen. Oft ironisch oder selbstironisch, aber, bei aller Komik, nicht ohne Melancholie angesichts dessen, was sich nicht realisieren ließ, und allem was schiefgegangen ist.

 

Blutsauger
Deutschland 2021, Regie Julian Radlmaier
Mit Alexandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, Corinna Harfouch
Laufzeit 125 Minuten