Planet der Affen

Zeitreise durch die Filmgeschichte

Von „Vertigo“ über „La Jetée“ über „Twelve Monkeys“ zur Serie „12 Monkeys“: eine kleine Zeitreise durch die Filmgeschichte. Der Text wurde inspiriert durch die Reihe „Ein zweites Leben – Thema und Variation im Film“ im Oktober 2016 im Österreichischen Filmmuseum.

In Vertigo (1958) ist der von James Stewart gespielte Privatdetektiv Scottie bekanntlich in der Zeit gefangen. Er ist verliebt, jedoch nicht in die Frau, die er observieren soll, sondern in das Bild dieser Frau. Nachdem er Madeleine (Kim Novak) verloren hat, ist er davon besessen, an ihrem Bild festzuhalten, es wieder zum Leben zu erwecken. Zwanghaft versucht er, eine scheinbar andere Frau nach ihrem Bild zu modellieren. Um einen Kreis zu schließen, durchlebt Scottie in der Gegenwart noch einmal die Vergangenheit, und gerät doch nur in eine unaufhaltsame Abwärtsspirale.

Viele waren beeindruckt von Vertigo, entlarvte Hitchcocks Meisterwerk den Kinogänger doch imposant in der eigenen Rolle als obsessiver Voyeur. Besonders stark beeindruckt war der große französische Essayfilmemacher Chris Marker. In Markers La Jetée wird ein namenloser Mann durch die Zeit geschickt, um der postapokalyptischen Gesellschaft seiner Gegenwart zu helfen. Sein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen prädestiniert ihn für die mentalen Strapazen der Zeitreise. Wie Scottie kriegt auch dieser Mann das Bild einer Frau nicht aus dem Kopf. Als Kind hat er sie auf einem Flughafen gesehen.

La Jetée / Am Rande des Rollfelds, 1962, Chris Marker

La Jetée variiert mehrere Motive von Vertigo, ist jedoch eine ganz eigenwillige, formal avancierte Science-Fiction-Fantasie, ein Abgesang auf die Menschheit, strukturiert als Fotoroman: Der Film zerlegt die Zeit in Einzelmomente. Standbilder sind in ausgeklügeltem Rhythmus aneinander gereiht oder ineinander geblendet, deutschsprachiges Wissenschaftergemurmel als Nebengeräusch, während der Held aus dem Off erzählt. Mit bedeckten Augen begibt er sich auf Zeitreisen und begegnet dabei, wie dermaleinst im abgedunkelten Kinosaal der Besucher von Vertigo, einer betörenden Frau (Hélène Chatelain), deren Profil und Frisur an Stellen frappant an Madeleine erinnert. In einer ausführlichen Bildfolge ist er mit ihr in einem Museum der Naturgeschichte zu sehen. (Einmal stehen sie einem majestätisch blickenden Affen gegenüber.) Eingefrorene Zeit auch in den Körpern der ausgestopften Tiere, es ist, als könnte der Held nur in einer versunkenen Traumwelt mit der Frau zusammen sein.

Marker war offenbar obsessiv verliebt in Vertigo. Wie Scottie scheint er Madeleine noch einmal von vorn begegnen zu wollen, gewissermaßen auf die andere Seite der Vertigo-Leinwand treten und die Frau nach seinem persönlichen Bild von ihr gestalten. Doch irgendwann in La Jetée kommt ein Moment des Erwachens. Die Szene, in der ein Foto sich plötzlich bewegt, der Moment, in dem die Frau aufwacht und uns Voyeuren die Augen öffnet. Es ist ein Erwachen im dreifachen Sinn: Das Bild lernt laufen, das begehrte Objekt erhebt sich zum Subjekt und der Zuseher ist schlagenden Herzens gezwungen, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen.

Ähnlich selbstreflexiv wie La Jetée geht zwanzig Jahre später Markers Meisterwerk Sans Soleil (Unsichtbare Sonne, 1983) mit Zeit und Erinnerung um. Darin heißt es, der Filmemacher habe Vertigo 19 Mal gesehen. Bis zum Lebensende Markers 2012 könnten noch einige Male hinzugekommen sein.

Twelve Monkeys, 1995, Terry Gilliam

Geschichte wiederholt sich, Geschichten wiederholen sich. Wie der namenlose Mann als Kind auf der Aussichtsplattform von Paris-Orly eine Frau leben und einen Mann sterben sieht, sieht James Cole (Bruce Willis) als Kind in einem Flughafen-Terminal eine Frau leben und einen Mann sterben. Wie jener muss auch Cole am Ende das Paradoxon begreifen, dass er selbst der Ermordete ist. Doch das Dazwischen ist aus einer anderen Zeit, schlechterdings von einem anderen Planeten. Von La Jetée (und natürlich von Vertigo) inspiriert, schrieben David Webb Peoples und Janet Peoples ihr Drehbuch zu Terry Gilliams Zeitreisethriller Twelve Monkeys. Der Film hat selbstverständlich nichts mit Markers Idee, den Bilderfluss durch Standbilder zum Stocken zu bringen, zu tun; in ihm strömen die Bilder unentwegt. Und doch: Auf seine überschießende Art wollte auch Gilliam, der ungekrönte König des Wahnsinns im Kino, die Menschen zu einer anderen Wahrnehmung der Welt bewegen. Einer Welt, die in seinen Augen unübersichtlich und labyrinthisch geworden ist, die Abermillionen falscher und echter Bilder, unbestimmbare Identitäten, jede Menge Fieberträume und wenige Wahrheiten zu bieten hat. Schon die titelgebende „Army of the Twelve Monkeys“ ist nichts als eine falsche Fährte. Cole wird aus dem Jahr 2035 in das Jahr 1996 geschickt, um den Ausbruch eines Virus zu verhindern, der die Menschheit nahezu vollständig vernichtet und ihren kargen Rest unter die Erde verbannt hat. Cole könnte aber auch schlicht geisteskrank sein.

Die schöne Frau, die zur Beschützerin des Zeitreisenden avanciert, wird gespielt von Madeleine (!) Stowe. Sie hat sich im Vergleich zu ihren „Vorgängerinnen“ emanzipiert. Vom bloß begehrten Objekt bei Hitchcock ist sie zu einem selbständig denkenden und handelnden Menschen geworden, zur Wissenschafterin Dr. Kathryn Railly. Immerhin.

Vertigo ist Hitchcocks berühmtester Film, La Jetée der bekannteste Film von Chris Marker, Twelve Monkeys der kommerziell erfolgreichste von Terry Gilliam (einen „brainier-than-usual blockbuster“ nannte ihn „IndieWire“, Platz eins im Gilliam-Ranking nimmt unangefochten Brazil aus dem Jahr 1985 ein). Filme haben bekanntlich nicht nur in sich selbst eine eigentümliche Verwandtschaft mit der vergehenden Zeit, mit Veränderung und Verschwinden, mit Erinnern oder Vergessen. Der Blick auf sie kann sich im Lauf der Filmgeschichte verändern. Also sollte man präzisieren: Erst der Erfolg von Twelve Monkeys (über den Marker später einmal sagte, er finde ihn großartig) verhalf La Jetée mehr als 30 Jahre nach der Entstehung zu plötzlicher Popularität und machte ihn zu Markers publikumswirksamstem Film.

12 Monkeys, 2015–2018, Travis Fickett, Terry Matalas

Ja, die Welt war schon damals ein seltsamer Ort. Und nimmt man 12 Monkeys zum Maßstab, ist sie in den vergangenen 25 Jahren noch seltsamer geworden. Die von Travis Fickett und Terry Matalas konzipierte Serie basiert nicht nur auf Gilliams Film, auch die Autoren David Webb Peoples und Janet Peoples zeichnen wieder hauptsächlich für das Skript verantwortlich. Die Mission ist klar: Cole soll in unsere Gegenwart reisen und die Welt vor dem Virus retten. In der zerdehnten Serienvariante erweist sich das als ein immer weitere Spiralen ziehendes, schier endloses Unterfangen – das flotte Erzähltempo kann dabei gewisse Redundanzen sozusagen nicht vergessen machen. Zu den Schwierigkeiten gehören marodierende Banden des Jahres 2043, Coles mit jeder Zeitreise nachlassende Kräfte („Splinter“ heißt der Vorgang und die allererste Episode) und – natürlich exzessiver als in der Filmversion – wegen eines Zeitmaschinendefekts am geplanten Ziel vorbeiführende Destinationen.

Dr. Railly trägt in der Serie den Vornamen Cassandra (Amanda Schull sieht der jungen Kim Novak recht ähnlich), ihr Schützling Cole (der im Vergleich zu Willis ein wenig blasse Aaron Stanford) entspricht nun eher einem „All American Guy“. Aus dem weiteren Cast stechen Emily Hampshire, die den verrückten Brad Pitt ersetzt, Tom Noonan als mörderischer Gentleman und Barbara Sukowa hervor. Die einstige Fassbinder-Schauspielerin, eine Große ihres Fachs, hat in der Rolle einer eigensinnigen Wissenschafterin der Zukunft immer wieder starke Momente, ist aber nicht ausgesprochen gefordert. Gegen Ende der zweiten Season kehrt erfreulicherweise Madeleine Stowe zurück, wenngleich nur in eine Irrenanstalt der 1950er Jahre. Dass Raillys Freund (Noah Bean) den Nachnamen Marker bekommen hat, ist angesichts dieser matten Figur eine fragwürdige Hommage an den Lieferanten der ursprünglichen Inspiration.

Ein gewisser Reiz von 12 Monkeys liegt in seiner komplexen Schleifenstruktur und den sich ständig ändernden Wissensvoraussetzungen seiner Figuren. Manche Fallstricke der paradoxen Zeitreise-Logik kann die Serie nicht umgehen, aber alles scheint einem höheren, man könnte sagen moralischen Erzählzweck zu dienen. Aus Abermillionen Bildern sind in der Zwischenzeit Abermilliarden geworden, Identitäten nehmen an Brüchigkeit zu, das spiegelt sich in der Serienvariation. Das Fieber in den Träumen indes ist ohne Gilliam ein wenig zurückgegangen. Als fruchtbar für die Gegenwartsdeutung und zugleich ernüchternd kann man empfinden, dass kein milliardenschweres soziales Netzwerk und kein profitabler Riesenkonzern und schon gar keine populistische Regierung verhindern wird: Die Affen unseres Planeten sind auf dem Vormarsch. Wirklich originelle weitere Facetten konnte zumindest die erste Season von 12 Monkeys der Geschichte nicht abgewinnen. Und eines bleibt sowieso gleich – „No matter what I do, you always die“, sagt Cole irgendwann zu Cassie. Da geht es ihm wie Scottie mit Madeleine.

Palm Springs, 2020, Max Barbakow

Die potenziellen Endlosschleifen von Zeitreise-Sujets sind hervorragend für Konzeptionen des Fortlaufenden geeignet (Serien wie Dr. Who, Outlander, 11.22.63, Frequency oderTimeless) zeugen davon. Manche davon basieren wie 12 Monkeys auf Kinofilmen, viele davon werden mutmaßlich in den Orkus der Fernsehgeschichte versinken. Eine Variation des beliebten (und von mir mittlerweile rund ein Dutzend mal gesehenen) Tagesschleifen-Films Groundhog Day (Und täglich grüßt das Murmeltier, 1993, Harold Ramis, Trailer) heißt Palm Springs (2020, Max Barbakow) und amüsiert mit seiner Abgeklärtheit gegenüber dem eigenen Meta-Genre. Auch gelungene Komödien wie diese erscheinen heute auf und verschwinden morgen wieder von den Plattformen (in diesem Fall Amazon Prime), haben sozusagen keine Zukunft, die über aktuell messbares Viewing-Interesse hinausgeht.

Ein kleines Juwel aus der Vergangenheit des Kinos wird indes noch weit in die Zukunft hineinstrahlen, ein Meilenstein des essayistischen Metafilms, über den Fritz Göttler schrieb: „Die Kunst der Evasion in höchster Vollendung. Der Film besteht aus kristallisierten Einzelmomenten, in denen das Kino der Gegenwart zu entfliehen versucht, durch die gerade aber Realität ins Kino eindringt.“

Wie Realität und Fiktion einander magisch durchdringen können, auch davon erzählt La Jetée. Und nicht zuletzt davon erzählt auch ein Aspekt seiner Entstehung: Dass nämlich der Keller und dessen Gänge, in denen Teile von La Jetée gedreht wurden, wenig später zum Lager der Cinémathèque française werden sollten und damit zum Archiv von tausenden Filmrollen und unzähligen Einzelfilmbildern, das ist wohl eine der schönsten Fußnoten in der Geschichte der Herstellung und -bewahrung analogen Filmmaterials. Der Ausgangspunkt einer Zeitreise als Ort, an dem die Zahl möglicher Zeitreisen Legion ist – Reisen durch die Geschichte des Kinos.

(Der Text erschien 2016 im ray Filmmagazin und wurde für die Veröffentlichung im filmfilter aktualisiert.)