In ihrer meisterhaften Adaption von Antonio Di Benedettos existenzialistischem Roman „Zama“ folgt Lucrecia Martel der Malaise der argentinischen Gesellschaft bis an ihre kolonialen Wurzeln.
Ein Mann steht am Ufer eines Flusses und schaut aufs Wasser. Er trägt einen dreikrempigen Hut, ein Wams und einen Degen. Seine Haltung strahlt Würde aus, und doch wirkt er unentschlossen, wie er da so ein paar Schritte hin und dann wieder zurück geht und erneut aufs Wasser schaut. Als würde er auf etwas warten, nein, eigentlich eher dringlich ersehnen.
„There we were: Ready to go and not going.“
Mit diesem Satz beschließt Don Diego de Zama den Einstieg in die Schilderung seiner Jahre währenden vergeblichen Hoffnung. Zama ist die Titelfigur und der Ich-Erzähler des 1956 erschienenen gleichnamigen Romans von Antonio Di Benedetto, der diesen „to the victims of expectation“, den Opfern der Erwartung gewidmet hat. „Zama“ gilt als eines der Meisterwerke der argentinischen Literatur, als großer existenzialistischer Roman und sein 1922 in Mendoza geborener Autor zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des Landes. Dass Di Benedetto allerdings nach wie vor weniger bekannt ist als beispielsweise seine Landsleute Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, hängt auch damit zusammen, dass seine Werke lange nicht greifbar waren und eine Wiederentdeckung erst mit Neuauflagen Ende der Neunzigerjahre begann (die erste englische Übersetzung seines Romanerstlings und zugleich Hauptwerkes erschien gar erst im August 2016; eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Zama wartet“ liegt hingegen bereits seit 1967 vor). Di Benedetto arbeitete als Journalist (u.a. als Filmkritiker), Auslandskorrespondent und Drehbuchautor, bevor er 1976 von der Militärjunta inhaftiert wurde und für eineinhalb Jahre in deren Folterkellern verschwand. Nach seiner Entlassung aus der Haft ging er ins Exil nach Europa und lebte dort in Paris und Madrid. 1984 kehrte Di Benedetto schließlich nach Argentinien zurück und starb zwei Jahre später, arm und nahezu vergessen, in Buenos Aires.
Der argentinische Romancier Juan José Saer charakterisierte „Zama“ als „weniger ein historischer Roman denn vielmehr die Widerlegung/Anfechtung der Möglichkeit eines historischen Romans“. Die argentinische Filmemacherin Lucrecia Martel wiederum, die den aufgrund seiner strikten Innenperspektive schwer zu verfilmenden Text dennoch adaptiert hat (zwei noch zu seinen Lebzeiten geplante Verfilmungen scheiterten sehr zu Di Benedettos Enttäuschung), versucht mit Zama zur historischen Wurzel der Krankheit der argentinischen Gesellschaft vorzudringen. Einer Krankheit, um die letztlich ihr gesamtes bisheriges Schaffen kreist und deren Symptome – Lähmung, Stillstand, Stagnation –, dies zumindest Martels filmisch formulierte These, von einer Krise der Identität ausgelöst werden, ja, möglicherweise sogar von einem Mangel an Identität. Über die Figur des Zama sagt Lucrecia Martel in einem Interview mit dem Film Comment: „If he surrendered his existence to his surroundings, he’d be much less dissatisfied“.
Wer also ist Zama?
Di Benedetto hat seine Geschichte in Asunción, Paraguay, in einem äußerst bescheidenen Außenposten der spanischen Kolonialverwaltung verortet und in drei Großkapitel gegliedert, die in den Jahren 1790, 1794 und 1799 angesiedelt sind (11 Jahre später wird Argentinien seine Unabhängigkeit von Spanien erklären und ein sechs Jahre währender Befreiungskrieg folgen). Hier nun verrichtet Don Diego de Zama, ein niederer Beamter zwar, vor Ort aber immerhin die rechte Hand des jeweiligen Gouverneurs, seinen Dienst. Zama ist ein Americano, einer, der von den spanischen Eroberern zwar abstammt, doch bereits in den Kolonien geboren wurde. Das ferne Europa, die Heimat seiner Vorfahren, übt einen seltsamen Reiz auf Zama aus, als wäre es der Fluchtpunkt all seiner Sehnsüchte. Denn Zama wartet. Er wartet auf seinem ungeliebten Posten an diesem ungeliebten Flecken auf einen Brief des Königs von Spanien, der ihm die erhoffte Versetzung in eine aufregendere, kultiviertere Gegend und wenn möglich auch gleich noch eine Beförderung bringen soll. Zama will zu seiner Frau und seinen Kindern, die in der Heimat, irgendwo, auf ihn warten. Was er darüber hinaus noch will, scheint er vergessen zu haben. Denn Zama kommt nicht vom Fleck. Seine Situation ist fragil; er ist angewiesen auf das Wohlwollen seiner Vorgesetzten, die seine Sache vorantreiben und Briefe zu seinen Gunsten an die Obrigkeit verfassen sollen. So sieht er sich gezwungen, sich deren Launen zu unterwerfen, ein gehorsamer Untergebener zu sein und ihre Befehle auszuführen. Doch die Gouverneure kommen und gehen und Zama bleibt und wartet und hofft. Und kein Brief des Königs will sich einstellen. Und über das Hoffen und das Warten vergeht Zamas Leben. Er verliert Status und Habe, er landet in einer von Geistern bevölkerten ruinösen Herberge, schließlich treibt er mit einer Söldnertruppe auf der Jagd nach einem berühmt-berüchtigten, eigentlich totgesagten Banditen durchs paraguayanische Grasland. Zama, diese Figur, die sich auch Samuel Beckett ausgedacht haben könnte, dringt vor in ein Conrad’sches Herz der Finsternis, das hier in Lateinamerika schlägt. Und wo sich seine Realität auflöst. In einen Transitionsrausch? In ein Sterbedelirium? Kommt Zama, der Feststeckende, am Ende womöglich doch noch vom Fleck?
In der Rolle Zamas glänzt der spanisch-mexikanische Schauspieler Daniel Giménez Cacho, der seine Figur einmal als einen „mediokren Mann“ beschrieben hat. Mit großer Ruhe, nuanciert und voller Menschlichkeit spielt er diesen Don Diego, der seine Würde verzwergt sieht und seine Sehnsüchte unbeantwortet und der immer wieder aufs Neue versucht, die befremdliche Logik seiner misslichen Lage zu begreifen und wenigstens irgendeine Art von Kontrolle über sein Schicksal zu erlangen. Vergeblich.
„Zama“ ist ein sperriger Stoff und wie für Martel gemacht. Nicht zuletzt weil Antonio Di Benedetto von der Perspektive des Protagonisten aus erzählend vielerlei ungesagt und ungeschildert lässt. So wie ja auch Martel in ihren Filmen das Ungesagte und das Ungezeigte immer miteinbezieht. Wie schon Di Benedettos literarischer, so entfernt sich auch Martels filmischer Entwurf der Kolonialära vom Gewohnten und Erwarteten und macht auf diese Weise deutlich, dass es sich bei Zama nicht um einen um historische Akkuratesse bemühten Kostümfilm handelt. Martel geht sogar noch weiter, wenn sie auf die Jahreszahlen, die das Geschehen in der Vorlage zeitlich verorten, gleich ganz verzichtet. Sie eliminiert darüber hinaus weitgehend alle Zeichen des Katholizismus; ein fernes Glockenläuten wird einmal hörbar, ein Priester verhandelt Bestattungsmodalitäten, doch weder Kruzifixe noch Kirchen geraten dabei in den Blick. Auch der Waffengewalt kommt kaum Bedeutung zu, jedenfalls insofern verschiedentliche, im Roman geschilderte Brutalitäten Zamas keinen Eingang in den Film finden; aus einem ebenso einfachen wie einleuchtenden Grund: Die Kolonialgesellschaft, in der Zama lebt, ist in ihrer Essenz und ihrem Wesen nach derart brutal, dass nichts, was die Figur täte, diesen Zustand noch verschlimmern könnte. Dazu schreibt Esther Allen, die Übersetzerin des Romans ins Englische, in ihrem sehr lesenswerten Essay „The Crazed Euphoria of Lucrecia Martel’s ‚Zama‘“ (erschienen in der New York Review of Books): „This redirection of attention from individual acts of violence toward the structural violence of colonialism itself isn’t a departure but an acute reading of the novel.“
Anti-Historienfilm
In vielerlei Hinsicht betritt Lucrecia Martel mit Zama Neuland: Es ist ihr erster Film, in dem nicht eine Frau, sondern ein Mann im Fokus der Aufmerksamkeit steht; es ist der erste Film, zu dem sie nicht selbst ein Originaldrehbuch schrieb; der erste, der nicht in ihrer Heimatprovinz Salta spielt und der erste, in dem sie einen historischen Stoff umsetzt. Wie gewohnt jedoch nimmt Martel auch hier die Sozial- wie Machtstrukturen eines gesellschaftlichen Mikrokosmos in den Blick und schafft eine Art Anti-Historienfilm, in dem der erzwungene Ennui des tragischen Helden im kafkaesken Treiben der herrschenden Klasse seine Entsprechung findet. Mit Zama ist Lucrecia Martel ein Werk von eigenwilliger Strahlkraft und Tiefgründigkeit gelungen. Ein ebenso faszinierender wie befremdlicher Film, der einmal mehr ihr kreatives Vermögen bezeugt, vermittels einer innovativen Filmsprache das Bildliche zu transzendieren und zu einer originären Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit vorzudringen. Zugleich ist Zama eine Verdichtung, ein Konzentrat ihres bisherigen Schaffens.
Es ist ein schmales, dafür aber umso beeindruckenderes Œuvre, das Martels Status als eine der bedeutendsten Vertreter:innen nicht nur des argentinischen Gegenwartskinos nachdrücklich begründet. Gerade einmal vier Spielfilme in sechzehn Jahren: La Ciénaga (The Swamp, 2001), La niña santa (The Holy Girl, 2004) und La mujer sin cabeza (The Headless Woman, 2008) – nach ihrem Schauplatz „Salta-Trilogie“ benannt – und der bei den Filmfestspielen in Venedig 2017 uraufgeführte Zama. Vier Solitäre, die jeder für sich Rätsel aufgeben, Geheimnisse bergen und die doch ganz durchscheinend sind. Vier höchst eigenständige Beiträge zur Filmgeschichte, die vielfach lesbar und endlos reizvoll im scheinbar Banalen die Komplexität der menschlichen Existenz zu erfassen suchen.
Martel, die 1966 in Salta in der gleichnamigen Provinz im Nordwesten Argentiniens geboren wurde, entstammt einer Mittelklasse-Familie und besucht eine katholische Schule, bevor sie nach Buenos Aires geht, um dort Kommunikationsdesign zu studieren. „Nebenher“ besucht sie einen Zeichentrick-Kurs der Nationalen Filmschule für Experiment und Regie (E.N.E.R.C.) und beginnt, erste eigene Kurzfilme zu realisieren; darunter Rey Muerto, der in die Kurzfilmkompilation Historias Breves (1995) Eingang findet, die als Initialzündung des „New Argentine Cinema“ gilt.
Sechs Jahre vergehen, bevor Martel mit La Ciénaga ihren Debütfilm im Wettbewerb der Berlinale vorstellt und dort mit dem Alfred Bauer Preis für innovative Filmkunst ausgezeichnet wird. Es ist in der Tat erstaunlich, wie Martel schon in den ersten Einstellungen ihres ersten Langfilms – in dem sie erklärtermaßen autobiografische Motive verarbeitet – nicht nur ihr Thema einer stagnierenden verfallenden Gesellschaft setzt, sondern auch eine filmsprachliche Eigenwilligkeit demonstriert, die rasch als ebenso neuartig wie bereits meisterlich beherrscht erkennbar wird. Eigenartige Schärfenverlagerungen und seltsame, um Überblick scheinbar unbekümmerte Choreografien der Bewegungen vor der Kamera gehören dazu ebenso wie die Wahl unspektakulärer Bildausschnitte und eine fahrige, leicht nervös wirkende Führung des Blicks. Wer schaut da? Und wohin? Aus welchem Grund?
Klangwelten
Noch während der Anfangscredits von La Ciénaga also nimmt die faule Bourgeoisie, die hier an einem schmutzigen, trüben Pool herumhängt und schlechten Rosé in sich hineinsäuft als wär’s Himbeersaft, einen Stellungswechsel vor; welkes Fleisch zerrt verbeulte Metallstühle über brüchigen Beton und verursacht dabei ein Geräusch, das ein Rezensent so beschrieb: „It suggests what it might sound like if you could hear something rust“, das also eine Vorstellung davon vermittelt, wie sich der Vorgang des Rostens anhören könnte.
Damit ist eine der spezifischen Qualitäten des Kinos von Lucrecia Martel beschrieben: seine Fähigkeit, synästhetisch die Grenzen der einzelnen Sinneswahrnehmungen zu überschreiten beziehungsweise diese ineinander fließen zu lassen. Gleichermaßen überwindet Martel die Beschränkung des Filmbildes, die Enge des Kaders, indem sie von Beginn an mit dem Offscreen-Raum arbeitet; das heißt, sie bezieht das Jenseits der Einstellung als Bedeutungsträger in die Erzählung mit ein. Das geschieht zum Beispiel, wenn eine der Figuren außerhalb des Bildrahmens etwas wahrnimmt und einen interessierten/gebannten/erschrockenen Blick darauf richtet. Oder aber der Raum außerhalb wird vermittels einer plötzlichen Reflexion (beispielsweise der Bewegung einer Schranktür, an der ein Spiegel hängt) hereingeholt. Vor allem und bevorzugt betrifft diese Erweiterung jedoch die Ebene der Töne, die von Außen in die Szene hineinwirken: Geräusche und Klänge aller Art, Musik und Gespräche – es kommt ihnen unterschiedslos Bedeutung zu, denn alle sind sie Teil jenes egalitären Universums, aus dem heraus Martel ihren Blick auf die Welt richtet. Sie erweitert solcherart das Ersichtliche und Gegebene um das Mögliche und zu Mutmaßende. Sie öffnet ihre filmische Welt, lässt aber zugleich oftmals offen wohin. Dazu Martel in einem Interview mit dem Slant Magazine: „In general, in all my films the sound concept is the same. It‘s to generate a soundtrack that allows one to transcend the referential power of images, that lets you see beyond, that lets you doubt this or that, for the soundtrack not to affirm the image in an automatic manner.“
In Bezug auf Zama bedeutet dies, dass alle Töne gleichberechtigt sind und der menschlichen Konversation keine größere Bedeutung beigemessen wird als den übrigen Geräuschen: Kinderlachen, Vogelgezwitscher, Gebell und Gewieher, Knarzen und Knacken, Schritte und Getrappel, Klatschen, Geraschel, Quietschen und so fort; der ganze tropische Tonsalat bildet nicht nur den Raum, in dem Zama agiert, er repräsentiert auch dessen Wahrnehmung und ist damit zugleich Teil (s)einer Innenwelt. Wobei der vermeintliche Realismus/Naturalismus des von Guido Berenblum verantworteten Sound Designs konterkariert wird durch den Einsatz der Musik von „Los Índios Tabajaras“, eines indigenen brasilianischen Gitarristenduos, dessen Strandbar-taugliche, eingängige Melodien sich zu Zeiten der Entstehung von Di Benedettos Roman großer Beliebtheit erfreuten. Mit dieser Musikauswahl verweist Martel auf die Herkunft ihres Stoffes und erweitert ihren Film um seinen Entstehungskontext. Dies nur als Beispiel dafür, wie gefinkelt gearbeitet Martels filmische Geflechte sind.
Eine der Folgen ihres egalitären Ansatzes in der Behandlung von Bild, Ton und Bedeutung ist ein ausuferndes Mäandern dessen, was gemeinhin Handlung genannt wird und in Martels Filmen bestenfalls die Spitze des Eisbergs darstellt. Dazu die Filmemacherin, zitiert im oben verlinkten Aufsatz von Esther Allen: „Plot is only the seafoam on top of a wave, what interests me is the teeming ocean beneath.“ Daraus resultiert ein kunstvoll kunstloses Kino, das das, was nicht mehr auffällt und an das alle sich lange schon gewöhnt haben, in den Fokus nimmt, um daraus Erkenntnisse zu erlangen über eine gesellschaftliche oder eine individuelle Verfasstheit oder die Relation zwischen beidem. Vor allem aber über das Verhältnis der überwiegend weißen Mittelschicht Argentiniens zu den indigenen Ureinwohnern des Landes sowie zu den zahlreichen ethnisch unterschiedlich geprägten soziokulturellen Gruppen, die sich im Verlauf seiner schwierigen und von Gewalt geprägten Geschichte gebildet haben. Ein Minenfeld, auf das sich niemand gerne wagt, das Martel aber insistierend erkundet. Zuvörderst, indem sie die Verweigerung und Verdrängung jener Klasse zeigt, die sie am Besten kennt.
„Diese Indianer“
In der „Salta-Trilogie“ beschäftigt sich Martel mit dem Rassismus, der in der argentinischen Gesellschaft allgegenwärtig ist. Sie zeigt, wie schwierig es sein kann, das Machtgefälle und die Verachtung, die diesen Rassismus zum Ausdruck bringen, überhaupt wahrzunehmen, wenn diese alltäglich und normal geworden sind. Martel lässt die hierarchischen Verhältnisse sozusagen die Bilder grundieren. Lässt sie in beiläufigen Gesten und herablassenden Sätzen sich manifestieren und in den Unschärfen passieren. Im Hintergrund wirtschaften die Dienstboten, die früher die Sklaven waren und heute verächtlich „diese Indianer“ genannt werden und die selbstverständlich „faul“ sind und „dumm“. Ins vage Irgendwo hinein werden die Anordnungen gesprochen. Im Vordergrund die Bourgoisie, im Hintergrund, an der Grenze zur Sichtbarkeit, das Gerüst, das sie hält. Klassengesellschaft, im Raum gestaffelt. So weitestgehend strukturlos Martels Filme auf den ersten Blick auch immer wirken mögen, es entsteht in ihnen das Porträt einer Malaise in Permanenz, in der alle einander gegenseitig dabei unterstützen, dass es so bleibt, wie es ist, obwohl genau das eigentlich keiner der Beteiligten mehr aushält.
Wie Zama, der daran irre wird, dass er in Asunción sein Potenzial vergeudet, wo er doch andernorts zu Ruhm und Ehre gelangen könnte. In Zamas Verweigerung, das Hierundjetzt seiner Existenz als seine Lebensgegenwart anzunehmen, sieht Martel die Verweigerung des weißen Argentinien gespiegelt, die Tatsache zu akzeptieren, dass Argentinien alles andere als ein rein weißes Land ist. In der Figur des Zama erkennt sie den tiefen Riss in der nationalen Identität ihrer Heimat wieder. Ein schizophrenes Dasein, das seine historischen Wurzeln nicht anerkennt, das immer Woanders sein will und das darüber sinnlos verrinnt.
(Dieser Essay erschien erstmals 2018 für das Magazin des Verleihs trigon-film, Ennetbaden, Schweiz)
***
(Zama ist kostenlos für eingeschriebene Nutzer:innen der Plattform filmfriends.de bzw. gegen moderates Entgelt auf Vimeo oder Prime Video verfügbar.)
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Im Sumpf feststecken
Über das Schaffen der Argentinierin Lucrecia Martel. „Zama“ (2017) ist u.a. auf Prime Video zu sehen.
In ihrer meisterhaften Adaption von Antonio Di Benedettos existenzialistischem Roman „Zama“ folgt Lucrecia Martel der Malaise der argentinischen Gesellschaft bis an ihre kolonialen Wurzeln.
Ein Mann steht am Ufer eines Flusses und schaut aufs Wasser. Er trägt einen dreikrempigen Hut, ein Wams und einen Degen. Seine Haltung strahlt Würde aus, und doch wirkt er unentschlossen, wie er da so ein paar Schritte hin und dann wieder zurück geht und erneut aufs Wasser schaut. Als würde er auf etwas warten, nein, eigentlich eher dringlich ersehnen.
„There we were: Ready to go and not going.“
Mit diesem Satz beschließt Don Diego de Zama den Einstieg in die Schilderung seiner Jahre währenden vergeblichen Hoffnung. Zama ist die Titelfigur und der Ich-Erzähler des 1956 erschienenen gleichnamigen Romans von Antonio Di Benedetto, der diesen „to the victims of expectation“, den Opfern der Erwartung gewidmet hat. „Zama“ gilt als eines der Meisterwerke der argentinischen Literatur, als großer existenzialistischer Roman und sein 1922 in Mendoza geborener Autor zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des Landes. Dass Di Benedetto allerdings nach wie vor weniger bekannt ist als beispielsweise seine Landsleute Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, hängt auch damit zusammen, dass seine Werke lange nicht greifbar waren und eine Wiederentdeckung erst mit Neuauflagen Ende der Neunzigerjahre begann (die erste englische Übersetzung seines Romanerstlings und zugleich Hauptwerkes erschien gar erst im August 2016; eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Zama wartet“ liegt hingegen bereits seit 1967 vor). Di Benedetto arbeitete als Journalist (u.a. als Filmkritiker), Auslandskorrespondent und Drehbuchautor, bevor er 1976 von der Militärjunta inhaftiert wurde und für eineinhalb Jahre in deren Folterkellern verschwand. Nach seiner Entlassung aus der Haft ging er ins Exil nach Europa und lebte dort in Paris und Madrid. 1984 kehrte Di Benedetto schließlich nach Argentinien zurück und starb zwei Jahre später, arm und nahezu vergessen, in Buenos Aires.
Der argentinische Romancier Juan José Saer charakterisierte „Zama“ als „weniger ein historischer Roman denn vielmehr die Widerlegung/Anfechtung der Möglichkeit eines historischen Romans“. Die argentinische Filmemacherin Lucrecia Martel wiederum, die den aufgrund seiner strikten Innenperspektive schwer zu verfilmenden Text dennoch adaptiert hat (zwei noch zu seinen Lebzeiten geplante Verfilmungen scheiterten sehr zu Di Benedettos Enttäuschung), versucht mit Zama zur historischen Wurzel der Krankheit der argentinischen Gesellschaft vorzudringen. Einer Krankheit, um die letztlich ihr gesamtes bisheriges Schaffen kreist und deren Symptome – Lähmung, Stillstand, Stagnation –, dies zumindest Martels filmisch formulierte These, von einer Krise der Identität ausgelöst werden, ja, möglicherweise sogar von einem Mangel an Identität. Über die Figur des Zama sagt Lucrecia Martel in einem Interview mit dem Film Comment: „If he surrendered his existence to his surroundings, he’d be much less dissatisfied“.
Wer also ist Zama?
Di Benedetto hat seine Geschichte in Asunción, Paraguay, in einem äußerst bescheidenen Außenposten der spanischen Kolonialverwaltung verortet und in drei Großkapitel gegliedert, die in den Jahren 1790, 1794 und 1799 angesiedelt sind (11 Jahre später wird Argentinien seine Unabhängigkeit von Spanien erklären und ein sechs Jahre währender Befreiungskrieg folgen). Hier nun verrichtet Don Diego de Zama, ein niederer Beamter zwar, vor Ort aber immerhin die rechte Hand des jeweiligen Gouverneurs, seinen Dienst. Zama ist ein Americano, einer, der von den spanischen Eroberern zwar abstammt, doch bereits in den Kolonien geboren wurde. Das ferne Europa, die Heimat seiner Vorfahren, übt einen seltsamen Reiz auf Zama aus, als wäre es der Fluchtpunkt all seiner Sehnsüchte. Denn Zama wartet. Er wartet auf seinem ungeliebten Posten an diesem ungeliebten Flecken auf einen Brief des Königs von Spanien, der ihm die erhoffte Versetzung in eine aufregendere, kultiviertere Gegend und wenn möglich auch gleich noch eine Beförderung bringen soll. Zama will zu seiner Frau und seinen Kindern, die in der Heimat, irgendwo, auf ihn warten. Was er darüber hinaus noch will, scheint er vergessen zu haben. Denn Zama kommt nicht vom Fleck. Seine Situation ist fragil; er ist angewiesen auf das Wohlwollen seiner Vorgesetzten, die seine Sache vorantreiben und Briefe zu seinen Gunsten an die Obrigkeit verfassen sollen. So sieht er sich gezwungen, sich deren Launen zu unterwerfen, ein gehorsamer Untergebener zu sein und ihre Befehle auszuführen. Doch die Gouverneure kommen und gehen und Zama bleibt und wartet und hofft. Und kein Brief des Königs will sich einstellen. Und über das Hoffen und das Warten vergeht Zamas Leben. Er verliert Status und Habe, er landet in einer von Geistern bevölkerten ruinösen Herberge, schließlich treibt er mit einer Söldnertruppe auf der Jagd nach einem berühmt-berüchtigten, eigentlich totgesagten Banditen durchs paraguayanische Grasland. Zama, diese Figur, die sich auch Samuel Beckett ausgedacht haben könnte, dringt vor in ein Conrad’sches Herz der Finsternis, das hier in Lateinamerika schlägt. Und wo sich seine Realität auflöst. In einen Transitionsrausch? In ein Sterbedelirium? Kommt Zama, der Feststeckende, am Ende womöglich doch noch vom Fleck?
In der Rolle Zamas glänzt der spanisch-mexikanische Schauspieler Daniel Giménez Cacho, der seine Figur einmal als einen „mediokren Mann“ beschrieben hat. Mit großer Ruhe, nuanciert und voller Menschlichkeit spielt er diesen Don Diego, der seine Würde verzwergt sieht und seine Sehnsüchte unbeantwortet und der immer wieder aufs Neue versucht, die befremdliche Logik seiner misslichen Lage zu begreifen und wenigstens irgendeine Art von Kontrolle über sein Schicksal zu erlangen. Vergeblich.
„Zama“ ist ein sperriger Stoff und wie für Martel gemacht. Nicht zuletzt weil Antonio Di Benedetto von der Perspektive des Protagonisten aus erzählend vielerlei ungesagt und ungeschildert lässt. So wie ja auch Martel in ihren Filmen das Ungesagte und das Ungezeigte immer miteinbezieht. Wie schon Di Benedettos literarischer, so entfernt sich auch Martels filmischer Entwurf der Kolonialära vom Gewohnten und Erwarteten und macht auf diese Weise deutlich, dass es sich bei Zama nicht um einen um historische Akkuratesse bemühten Kostümfilm handelt. Martel geht sogar noch weiter, wenn sie auf die Jahreszahlen, die das Geschehen in der Vorlage zeitlich verorten, gleich ganz verzichtet. Sie eliminiert darüber hinaus weitgehend alle Zeichen des Katholizismus; ein fernes Glockenläuten wird einmal hörbar, ein Priester verhandelt Bestattungsmodalitäten, doch weder Kruzifixe noch Kirchen geraten dabei in den Blick. Auch der Waffengewalt kommt kaum Bedeutung zu, jedenfalls insofern verschiedentliche, im Roman geschilderte Brutalitäten Zamas keinen Eingang in den Film finden; aus einem ebenso einfachen wie einleuchtenden Grund: Die Kolonialgesellschaft, in der Zama lebt, ist in ihrer Essenz und ihrem Wesen nach derart brutal, dass nichts, was die Figur täte, diesen Zustand noch verschlimmern könnte. Dazu schreibt Esther Allen, die Übersetzerin des Romans ins Englische, in ihrem sehr lesenswerten Essay „The Crazed Euphoria of Lucrecia Martel’s ‚Zama‘“ (erschienen in der New York Review of Books): „This redirection of attention from individual acts of violence toward the structural violence of colonialism itself isn’t a departure but an acute reading of the novel.“
Anti-Historienfilm
In vielerlei Hinsicht betritt Lucrecia Martel mit Zama Neuland: Es ist ihr erster Film, in dem nicht eine Frau, sondern ein Mann im Fokus der Aufmerksamkeit steht; es ist der erste Film, zu dem sie nicht selbst ein Originaldrehbuch schrieb; der erste, der nicht in ihrer Heimatprovinz Salta spielt und der erste, in dem sie einen historischen Stoff umsetzt. Wie gewohnt jedoch nimmt Martel auch hier die Sozial- wie Machtstrukturen eines gesellschaftlichen Mikrokosmos in den Blick und schafft eine Art Anti-Historienfilm, in dem der erzwungene Ennui des tragischen Helden im kafkaesken Treiben der herrschenden Klasse seine Entsprechung findet. Mit Zama ist Lucrecia Martel ein Werk von eigenwilliger Strahlkraft und Tiefgründigkeit gelungen. Ein ebenso faszinierender wie befremdlicher Film, der einmal mehr ihr kreatives Vermögen bezeugt, vermittels einer innovativen Filmsprache das Bildliche zu transzendieren und zu einer originären Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit vorzudringen. Zugleich ist Zama eine Verdichtung, ein Konzentrat ihres bisherigen Schaffens.
Es ist ein schmales, dafür aber umso beeindruckenderes Œuvre, das Martels Status als eine der bedeutendsten Vertreter:innen nicht nur des argentinischen Gegenwartskinos nachdrücklich begründet. Gerade einmal vier Spielfilme in sechzehn Jahren: La Ciénaga (The Swamp, 2001), La niña santa (The Holy Girl, 2004) und La mujer sin cabeza (The Headless Woman, 2008) – nach ihrem Schauplatz „Salta-Trilogie“ benannt – und der bei den Filmfestspielen in Venedig 2017 uraufgeführte Zama. Vier Solitäre, die jeder für sich Rätsel aufgeben, Geheimnisse bergen und die doch ganz durchscheinend sind. Vier höchst eigenständige Beiträge zur Filmgeschichte, die vielfach lesbar und endlos reizvoll im scheinbar Banalen die Komplexität der menschlichen Existenz zu erfassen suchen.
Martel, die 1966 in Salta in der gleichnamigen Provinz im Nordwesten Argentiniens geboren wurde, entstammt einer Mittelklasse-Familie und besucht eine katholische Schule, bevor sie nach Buenos Aires geht, um dort Kommunikationsdesign zu studieren. „Nebenher“ besucht sie einen Zeichentrick-Kurs der Nationalen Filmschule für Experiment und Regie (E.N.E.R.C.) und beginnt, erste eigene Kurzfilme zu realisieren; darunter Rey Muerto, der in die Kurzfilmkompilation Historias Breves (1995) Eingang findet, die als Initialzündung des „New Argentine Cinema“ gilt.
Sechs Jahre vergehen, bevor Martel mit La Ciénaga ihren Debütfilm im Wettbewerb der Berlinale vorstellt und dort mit dem Alfred Bauer Preis für innovative Filmkunst ausgezeichnet wird. Es ist in der Tat erstaunlich, wie Martel schon in den ersten Einstellungen ihres ersten Langfilms – in dem sie erklärtermaßen autobiografische Motive verarbeitet – nicht nur ihr Thema einer stagnierenden verfallenden Gesellschaft setzt, sondern auch eine filmsprachliche Eigenwilligkeit demonstriert, die rasch als ebenso neuartig wie bereits meisterlich beherrscht erkennbar wird. Eigenartige Schärfenverlagerungen und seltsame, um Überblick scheinbar unbekümmerte Choreografien der Bewegungen vor der Kamera gehören dazu ebenso wie die Wahl unspektakulärer Bildausschnitte und eine fahrige, leicht nervös wirkende Führung des Blicks. Wer schaut da? Und wohin? Aus welchem Grund?
Klangwelten
Noch während der Anfangscredits von La Ciénaga also nimmt die faule Bourgeoisie, die hier an einem schmutzigen, trüben Pool herumhängt und schlechten Rosé in sich hineinsäuft als wär’s Himbeersaft, einen Stellungswechsel vor; welkes Fleisch zerrt verbeulte Metallstühle über brüchigen Beton und verursacht dabei ein Geräusch, das ein Rezensent so beschrieb: „It suggests what it might sound like if you could hear something rust“, das also eine Vorstellung davon vermittelt, wie sich der Vorgang des Rostens anhören könnte.
Damit ist eine der spezifischen Qualitäten des Kinos von Lucrecia Martel beschrieben: seine Fähigkeit, synästhetisch die Grenzen der einzelnen Sinneswahrnehmungen zu überschreiten beziehungsweise diese ineinander fließen zu lassen. Gleichermaßen überwindet Martel die Beschränkung des Filmbildes, die Enge des Kaders, indem sie von Beginn an mit dem Offscreen-Raum arbeitet; das heißt, sie bezieht das Jenseits der Einstellung als Bedeutungsträger in die Erzählung mit ein. Das geschieht zum Beispiel, wenn eine der Figuren außerhalb des Bildrahmens etwas wahrnimmt und einen interessierten/gebannten/erschrockenen Blick darauf richtet. Oder aber der Raum außerhalb wird vermittels einer plötzlichen Reflexion (beispielsweise der Bewegung einer Schranktür, an der ein Spiegel hängt) hereingeholt. Vor allem und bevorzugt betrifft diese Erweiterung jedoch die Ebene der Töne, die von Außen in die Szene hineinwirken: Geräusche und Klänge aller Art, Musik und Gespräche – es kommt ihnen unterschiedslos Bedeutung zu, denn alle sind sie Teil jenes egalitären Universums, aus dem heraus Martel ihren Blick auf die Welt richtet. Sie erweitert solcherart das Ersichtliche und Gegebene um das Mögliche und zu Mutmaßende. Sie öffnet ihre filmische Welt, lässt aber zugleich oftmals offen wohin. Dazu Martel in einem Interview mit dem Slant Magazine: „In general, in all my films the sound concept is the same. It‘s to generate a soundtrack that allows one to transcend the referential power of images, that lets you see beyond, that lets you doubt this or that, for the soundtrack not to affirm the image in an automatic manner.“
In Bezug auf Zama bedeutet dies, dass alle Töne gleichberechtigt sind und der menschlichen Konversation keine größere Bedeutung beigemessen wird als den übrigen Geräuschen: Kinderlachen, Vogelgezwitscher, Gebell und Gewieher, Knarzen und Knacken, Schritte und Getrappel, Klatschen, Geraschel, Quietschen und so fort; der ganze tropische Tonsalat bildet nicht nur den Raum, in dem Zama agiert, er repräsentiert auch dessen Wahrnehmung und ist damit zugleich Teil (s)einer Innenwelt. Wobei der vermeintliche Realismus/Naturalismus des von Guido Berenblum verantworteten Sound Designs konterkariert wird durch den Einsatz der Musik von „Los Índios Tabajaras“, eines indigenen brasilianischen Gitarristenduos, dessen Strandbar-taugliche, eingängige Melodien sich zu Zeiten der Entstehung von Di Benedettos Roman großer Beliebtheit erfreuten. Mit dieser Musikauswahl verweist Martel auf die Herkunft ihres Stoffes und erweitert ihren Film um seinen Entstehungskontext. Dies nur als Beispiel dafür, wie gefinkelt gearbeitet Martels filmische Geflechte sind.
Eine der Folgen ihres egalitären Ansatzes in der Behandlung von Bild, Ton und Bedeutung ist ein ausuferndes Mäandern dessen, was gemeinhin Handlung genannt wird und in Martels Filmen bestenfalls die Spitze des Eisbergs darstellt. Dazu die Filmemacherin, zitiert im oben verlinkten Aufsatz von Esther Allen: „Plot is only the seafoam on top of a wave, what interests me is the teeming ocean beneath.“ Daraus resultiert ein kunstvoll kunstloses Kino, das das, was nicht mehr auffällt und an das alle sich lange schon gewöhnt haben, in den Fokus nimmt, um daraus Erkenntnisse zu erlangen über eine gesellschaftliche oder eine individuelle Verfasstheit oder die Relation zwischen beidem. Vor allem aber über das Verhältnis der überwiegend weißen Mittelschicht Argentiniens zu den indigenen Ureinwohnern des Landes sowie zu den zahlreichen ethnisch unterschiedlich geprägten soziokulturellen Gruppen, die sich im Verlauf seiner schwierigen und von Gewalt geprägten Geschichte gebildet haben. Ein Minenfeld, auf das sich niemand gerne wagt, das Martel aber insistierend erkundet. Zuvörderst, indem sie die Verweigerung und Verdrängung jener Klasse zeigt, die sie am Besten kennt.
„Diese Indianer“
In der „Salta-Trilogie“ beschäftigt sich Martel mit dem Rassismus, der in der argentinischen Gesellschaft allgegenwärtig ist. Sie zeigt, wie schwierig es sein kann, das Machtgefälle und die Verachtung, die diesen Rassismus zum Ausdruck bringen, überhaupt wahrzunehmen, wenn diese alltäglich und normal geworden sind. Martel lässt die hierarchischen Verhältnisse sozusagen die Bilder grundieren. Lässt sie in beiläufigen Gesten und herablassenden Sätzen sich manifestieren und in den Unschärfen passieren. Im Hintergrund wirtschaften die Dienstboten, die früher die Sklaven waren und heute verächtlich „diese Indianer“ genannt werden und die selbstverständlich „faul“ sind und „dumm“. Ins vage Irgendwo hinein werden die Anordnungen gesprochen. Im Vordergrund die Bourgoisie, im Hintergrund, an der Grenze zur Sichtbarkeit, das Gerüst, das sie hält. Klassengesellschaft, im Raum gestaffelt. So weitestgehend strukturlos Martels Filme auf den ersten Blick auch immer wirken mögen, es entsteht in ihnen das Porträt einer Malaise in Permanenz, in der alle einander gegenseitig dabei unterstützen, dass es so bleibt, wie es ist, obwohl genau das eigentlich keiner der Beteiligten mehr aushält.
Wie Zama, der daran irre wird, dass er in Asunción sein Potenzial vergeudet, wo er doch andernorts zu Ruhm und Ehre gelangen könnte. In Zamas Verweigerung, das Hierundjetzt seiner Existenz als seine Lebensgegenwart anzunehmen, sieht Martel die Verweigerung des weißen Argentinien gespiegelt, die Tatsache zu akzeptieren, dass Argentinien alles andere als ein rein weißes Land ist. In der Figur des Zama erkennt sie den tiefen Riss in der nationalen Identität ihrer Heimat wieder. Ein schizophrenes Dasein, das seine historischen Wurzeln nicht anerkennt, das immer Woanders sein will und das darüber sinnlos verrinnt.
(Dieser Essay erschien erstmals 2018 für das Magazin des Verleihs trigon-film, Ennetbaden, Schweiz)
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(Zama ist kostenlos für eingeschriebene Nutzer:innen der Plattform filmfriends.de bzw. gegen moderates Entgelt auf Vimeo oder Prime Video verfügbar.)
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