False True Crime

True Crime ist ein wucherndes Genre, aber es treibt viele kurzlebige Blüten.

Zac Efron, Ted Bundy Movie
Extremely Wicked, Shockingly Evil and Vile, 2019, Joe Berlinger

Beispielhaft oberflächlich:Jimmy Savile: A British Horror Story“ und andere neuere Netflix-Serien zeigen, wie man es nicht macht. True Crime kann mehr sein als bloßes Feierabend-Entertainment.

True Crime boomt. Beliebt waren die Rekonstruktionen real geschehener Gewaltverbrechen medienübergreifend seit jeher, also seit Truman Capote das Genre mit seinem Roman (oder Tatsachenroman) „In Cold Blood“ 1965 miterfunden hat. True-Crime-Bestseller gibt es viele, Vincent Bugliosis „Helter Skelter: The True Story of The Manson Murders“ oder Mara Leveritts „Devil’s Knot: The True Story of the West Memphis Three“ (hier der Trailer der Verspielfilmung von Atom Egoyan) gehören zu meinen zwanzig intensivsten Leseerfahrungen. Seit den Zehnerjahren des laufenden Jahrhunderts ist die Zahl der True-Crime-Produktionen in Film-, Text- und Podcast-Form ins Unüberschaubare gewachsen. Die erste Staffel der Netflix-Serie Making a Murderer von 2015 erscheint rückblickend als eine Art Initialzündung für den jüngsten True-Crime-Boom auf allen Kanälen.

Making a Murderer schloss sowohl formal wie auch hinsichtlich seines Sujets an die Paradise Lost-Trilogie von Joe Berlinger und Bruce Sinofsky an: Ein Gewaltverbrechen wird zum Ausgangspunkt einer investigativen Aufdeckung von Polizei- und Justizversagen. Immer nahe an den Figuren, die im Genre eben keine Figuren sind, sondern „echte Menschen“ und deren Schicksal deswegen anders wahrgenommen wird als das von fiktiven Charakteren. Ihr Leiden wird erzählt, klar, aber es ist kein ausgedachtes: Die Grausamkeiten, deren Genese und Fortgang und Auswirkungen Thema von True-Crime-Geschichten sind, hatten reale Konsequenzen, dementsprechend ist der Wahrnehmungsmodus von Zuschauerin und Zuschauer ein anderer. Die Verantwortung, die mit dem filmischen Erzählen verbunden ist, ist also vergleichsweise groß (was natürlich nicht heißen soll, dass Erzähler:innen fiktiver Geschichten keine Verantwortung für das Erzählte hätten).

Ein Ende des Booms jedenfalls ist nicht abzusehen: In Dutzenden Netflix-Produktionen und -Lizenzierungen werden seit einiger Zeit noch die durchgenudeltsten Serial-Killer-Biographien anhand von mehr oder weniger neuen, möglichst spektakulären Dokumenten wieder hervorgezerrt und durchgekaut, Jeffrey Dahmer, Ted Bundy, Henry Lee Lucas, Richard Ramirez. Dazu kommen zahllose Podcasts und Magazine wie „Stern Crime“ oder „Verbrechen“ („Nichts ist spannender als die Wirklichkeit“), die das Genre mittels edler Fotos und mit wohl temperiertem Schreibstil aus der Schmuddelecke rausholen wollen; erfolgreich, wenn man sich die Verkaufszahlen anschaut.

Man argumentiert schnell moralisch, wenn es um True Crime geht. Der Verdacht, dass hier reales Leiden in einer Weise ausgebeutet wird, die ihm, dem Leiden, nicht gerecht wird, begleitet das Genre von Beginn an.

Der Verdacht wächst, je bescheuerter und unbedarfter die Formulierungen ausfallen. Margarete Stokowski hat in ihrer „Spiegel“-Kolumne Zitate gesammelt, um ihre These, beim aktuellen True- Crime-Boom handele es sich um „Boulevard für Besserverdienende“, zu stützen. „Sie ist 22 und keine klassische Schönheit“, verrät eine Titelstory aus „Stern Crime“. „Sie ist ungebildet. Er ist schlau, schlauer als alle, die er kennt.“ True Crime der doofsten Sorte: „Es ist, als hätte der Englischprofessor Bill Cathey ein Stück Literatur zur Realität werden lassen“; beziehungsweise hat er eine suchtkranke Frau entführt und gefoltert, egal. Die Zurichtung der Wirklichkeit mittels der Reproduktion von verbreiteten Klischees resultiert im Genre eigentlich zwangsläufig in Übergriffigkeit und Banalisierung.

Eine moralische Perspektive ist das eine, die läuft bei der True-Crime-Rezeption immer mit. Die erste Frage aber, mit der man sich filmischem True Crime nähert, sollte wie auch sonst beim Kino keine moralische sein, sondern die nach der Faszination, die von den Bildern und Geschichten ausgeht.

 

Exploitatives Genre

Eine aktuelle, im Vorfeld mittelschwer skandalisierte und schwerst erfolgreiche Netflix-True-Crime-Produktion ist Jimmy Savile: A British Horror Story. Hier ist alles beisammen, was das Genre aktuell narrativ und formal ausmacht – im Guten wie im Schlechten. Skandalisiert wurde der Zweiteiler dafür, dass er das Leid der Opfer unzulässig ausbeuten würde. Ein Vorwurf, der implizit voraussetzt, dass von der Serie nichts Gutes zu erwarten ist, keine Empathie, keine Aufklärung, keine Erkenntnis. Und die Opfer waren in diesem Fall zahlreich: Während seiner gesamten Karriere, also bis zu seinem Tod 2011, hat der populärste Fernsehmoderator Großbritanniens, Jimmy Savile, über 450 Menschen sexuell missbraucht und vergewaltigt, darunter überwiegend minderjährige Mädchen.

jimmy savile netflix true crime
Jimmy Savile: A British Horror Story, 2022, Rowan Deacon

Savile konnte über Jahrzehnte weitgehend unbehelligt agieren. Populär war er nicht nur als DJ und Moderator, sondern auch als Philanthrop. Als Schirmherr von Krankenhäusern und Jugendbesserungsanstalten hatte er direkten Zugang zu den Institutionen, in denen er, unter anderem, seine Opfer fand. Andere wurden in den Räumen der BBC vergewaltigt oder in seinem Wohnwagen, mit dem er durchs Land tourte. Das Schockierende an der Geschichte, die Jimmy Savile: A British Horror Story erzählt, ist, dass das alles möglich war, jahrzehntelang, und dass die Taten nicht wirklich vertuscht zu werden brauchten. Savile war mit der Royal Family und Margaret Thatcher befreundet, galt als Wohltäter und als eine Art exzentrischer, aber doch rundum akzeptierter britischer Nationalheld.

Nun lebt True Crime nicht nur von der Monstrosität der Täter, sondern auch, wie gesagt, von der Authentizität der Opfer und ist damit per Definition exploitativ. Die Faszination des Genres zehrt im Wesentlichen vom Wissen der Zuschauer:in, dass die Entstehung dessen, was man sieht und hört, keinen narrativen und ästhetischen Spielcharakter hatte, sondern reale körperliche und seelische Konsequenzen. Eine sozusagen nicht-exploitative Variante vom True Crime ist nicht denkbar. In Jimmy Savile: A British Horror Story tauchen die Opfer meist mit Zitaten aus Interviews und Polizeiaussagen auf. Einer von ihnen wird eine umfangreichere Filmzeit eingeräumt: Sam Brown erzählt, wie sie während der Messe missbraucht wurde, quasi vor aller Augen, und sie sich heute noch vorwirft, nicht geschrien zu haben.

Davon abgesehen fokussiert der Film sich auf den mit zunehmendem Alter zum skurrilen Horrorclown mutierenden Jimmy Savile. In einer konstant dichten, auf maximale Effekte hin geschnittenen Aufeinanderschichtung von dokumentarischem Material, Interviews, Talkshow- und News-Sendungen und düster-atmosphärischen Bildern wird drei Stunden lang gezeigt, wie ein Verbrechen in aller Offenheit und trotzdem von der Öffentlichkeit unbemerkt geschieht.

 

What-the-fuck-Momente

Die emotionalisierende Montage des Films ist exemplarisch für die Konstruktion von True Crime, die dann gerne mit dem Adjektiv „reißerisch“ belegt und kritisiert wird. Falsch ist das nicht. Schnitt und Sounddesign sind darauf angelegt, Zuschauerin und Zuschauer nicht als denkendes, sondern als Affektwesen zu adressieren. Was in Jimmy Savile: A British Horror Story auf den Versuch hinausläuft, eine möglichst große Dichte von What-the-fuck-Momenten beim Publikum zu erreichen. Das funktioniert als der Horrorfilm, den der Titel verspricht, also als Affektkino, sehr gut. Hier liegt der Kern der Faszination des Genres: Die Vergewisserung dessen, was an Gewalt real möglich ist, wo der Horrorfilm letzten Endes immer nur von der Phantasie seiner Autor:innen kommt. Das Filmerleben ist aber ähnlich gelagert: Angstlust, Neugier und Faszination, bei gleichzeitiger komfortabler Sicherheit von Zuschauerin und Zuschauer.

Bei den komplizierteren Aspekten des Ganzen gibt der Film sich sichtbar weniger Mühe. Wie müssen Institutionen – das Musik-Business, Kirchen, die BBC, Krankenhäuser – verfasst sein, damit jemand wie Jimmy Savile in ihrem Rahmen Kinder und Jugendliche vergewaltigen kann, jahrzehntelang? Wie ist das Handeln von Polizeibeamten zu erklären, die nach einer von den Eltern angezeigten Vergewaltigung einer Elfjährigen, die mit Hautkrebs im Krankenhaus lag, keine Ermittlungen aufnehmen? Wie kann es sein, dass ein Vergewaltiger vor laufender Kamera immer wieder Andeutungen machen und Frauen begrapschen kann, ohne dass jemand einschreitet? Alles das interessiert den Film nur, solange das Geschehen im bestimmenden What-the-fuck?-Modus verbleiben kann.

Die einzige Erklärung, die Jimmy Savile: A British Horror Story für die Dauer und die Offenheit des Missbrauchs anbietet, ist die Prominenz des Täters. Das ist nicht falsch, aber eben auch nicht alles. Jimmy Savile konnte in strukturell männlichen, massiv hierarchischen Institutionsgefügen agieren, in denen Frauen in den Sechziger- und Siebzigerjahren vor allem dekorativen, in jedem Fall aber einen untergeordneten Status hatten und in einem weitaus größeren Maße und unverblümter als sexuell verfügbar galten als heute. Die Zahl der Mitwisser:innen war groß, nicht umsonst hat die BBC versucht, nach dem Tod Saviles die Ausstrahlung einer Sendung, in dem Missbrauch offengelegt wurde, zu unterbinden. Zu diesem Verbrechen gehört als Voraussetzung eine Gesellschaft, in der Erfolg zwangsläufig mit Macht über andere und diese Macht wiederum mit Erotisierung assoziiert ist (die besten Momente des Films sind im Übrigen die, in denen man den altgewordenen Jimmy Savile als anachronistischen Lustgreis vor der Kamera rumhampeln sieht, anzügliche Bemerkungen machend, die von den Frauen, die mit ihm da stehen, eher ungläubig und angeekelt aufgefasst werden; Momente, die zumindest einen graduellen gesellschaftlichen Fortschritt markieren).

 

Zurück zur Moralfrage

Die anvisierte Zuschauerreaktion ist in diesem Film und im Genre allzu oft Fassungslosigkeit, nicht Erkenntnis von Zusammenhängen – ein entsetztes Staunen, „Wie isses nun bloß möglich?“, das sich als wohliger Grusel realisiert. Ein Film muss sicherlich keine definitiven Antworten formulieren (was ja nicht zuletzt eine Einhegung und Rationalisierung des Geschehens bedeuten würde). Aber der Vorwurf des Reißerischen und der ästhetischen und kommerziellen Ausbeutung realer Gewalterfahrungen, realen Leidens ist da berechtigt, wo alles abgeschnitten wird, was über den unmittelbaren, möglichst krassen Effekt hinausgeht.

Das heißt nicht, dass man das, was an Jimmy Savile: A British Horror Story kritisch ist, dem gesamten Genre vorwerfen könnte. Aber man kann an dem Film Kriterien wie „Denkfaulheit“, „Desinteresse an allem, was die Emotionalisierung unterbrechen könnte“ und „Dämonisierung eines Einzelnen, wo es um monströse Strukturen gehen sollte“, entwickeln. Und so True Crime, der es Zuschauerin und Zuschauer nahelegt, ahnungslose Bilder-Konsument:innen zu bleiben, von True-Crime-Produktionen unterscheiden, die mehr mit ihren Sujets anzufangen wissen.

Nimmt man diese Kriterien, kann man eine Skala konstruieren, auf der am einen Pol so etwas Unterhaltsames, Kaputtes und Exploitatives wie die Netflix-Serie Tiger King zu finden ist, der Täter wie Opfer als lustig-eklige White-Trash-Show zeigt. Und am anderen Pol so etwas wie die erwähnte Paradise Lost-Trilogie, die ebenfalls nichts beschönigt, sich aber durch Genauigkeit und eine schwer zu bestimmende Form von Sympathie zu ihren Figuren vom Bodensatz des Genres abhebt. Was im Falle der Trilogie auch deswegen leichter ist, da in den Filmen von den Ermittlungsbehörden abgesehen eigentlich nur Opfer auftauchen, und der tatsächliche Täter unerkannt bleibt.

Die jüngeren Netflix-Produktionen unterscheiden sich formal nicht mehr groß vom gängigen Boulevard-TV. The Night Strangler, The Ripper, The Raincoat Killer und Conversations with a Killer: The Ted Bundy Tapes bauen auf die Überhöhung von Mördern, die mit düster-dräuendem Sound-Design und atmosphärischen Sequenzen zu Personifizierungen eines dämonischen Bösen hochgejazzt werden. Das in diesen Fällen offenbar werdende Desinteresse an irgendeiner Erkenntnis, die sich aus dem Geschehen, das einem da unter Vermeidung jeder filmästhetischen Herausforderung vorgeführt wird, ableiten ließe, ist das eigentlich schreckliche Potenzial des Genres. In der Konsequenz werden die realen Toten und die Bilder der Leichen dann zu Material für komfortables Feierabend-Entertainment.