Ein Filmkanon der Zehnerjahre

Den Taschen-Bildband „100 Filme der 2010er“ nehmen wir zum Anlass, um über Kanonisierung nachzudenken.

Parasite, 100 Filme der 2010er
Parasite, 2019, Bong Joon-ho © TASCHEN

Für Cinephile, die den Verfall des Kinos mit Sorge beobachten, kann das Erscheinen des Kanons „100 Filme der 2010er“ jedenfalls zur Beruhigung beitragen. Anmerkungen zum Sinn der Kanonbildung.

Das Kino ist unübersehbar alt geworden, und artverwandte Medien haben ihm seine bei allen Krisen doch bislang unangefochtene Position als Leitmedium der bewegten Bilder streitig gemacht. Streaming und Gaming gewinnen immer mehr die Oberhand, und wenn man Zwölfjährige, die gerne berühmt wären, heute fragt, was sie später einmal werden wollen, dann bekommt man meist nicht mehr „Schauspieler“ als Antwort. Sondern YouTuber oder etwas in der Art. Gegenseitige Einflussnahmen und Crossover tun ihr Übriges: Einer der erfolgreichsten Filme 2020 war die Computerspiel-Verfilmung Sonic the Hedgehog, während die Gaming-Ästhetik zunehmend filmischer wird. Und der Blockbuster, immer schon anfällig für Reihenbildungen, setzt immer mehr auf Serialität. Man muss das alles nicht kompetitiv gegeneinander ausspielen. Aber das Ende der Breitenwirkung des hoch budgetierten, ästhetisch innovativen Kinos zum Beispiel hat – auch – mit der skizzierten Verschiebung und der mit ihr zusammenhängenden Monopolbildung der großen Produktionsfirmen zu tun; David Lynch und Martin Scorsese drehen heute für Showtime bzw. Netflix und nicht mehr für die große Leinwand.

Mad Max, Taschen
Mad Max: Fury Road, 2015, George Miller © TASCHEN

Aber schade ist es schon, dass mit dem Statusverlust des Kinos etwas Medienspezifisches rarer wird und vielleicht als Massenphänomen bald zu verschwinden droht: eine Wahrnehmung der Bilder, die wesenhaft verbunden ist mit der Position als Zuschauer:in in einem dunklen Saal, die alles bis auf die Leinwand so weit wie möglich ausblendet und ein immersives Versinken im Bilderstrom fördert, in einem öffentlichen Raum, gemeinsam mit anderen, einem selbst unbekannten Zuschauer:innen. Dieser öffentliche Charakter verschwindet beim Streamen im Privaten wie auch vor der Konsole zu Hause. Die Größe der Kinoleinwand und eine umfassende Sound-Anlage sind ebenfalls nicht ersetzbar.

Nun befindet sich der idealtypische Cineast, ein schreckliches Wort eigentlich, schon seit dem Aufkommen des Tonfilms in einem Zustand der Melancholie, ausgelöst durch den – jeweils erneuten, fortschreitenden, endgültigen – Verfall seines Lieblingsmediums. Ein Verfall, der von jeder Generation neu konstatiert und betrauert wird. Linderung verspricht da seit eh und je die Kanonbildung, die im Falle von TV-Serien erst ansatzweise und im Falle von Computerspielen bislang nur sehr verhalten läuft. Kanonisierung ist der Prozess, in dessen Verlauf sich herausmendelt, welche Filme retrospektiv als kulturell bedeutsam, stilbildend, politisch und ästhetisch relevant, also signifikante Werke beschrieben werden. Sie ist zum Glück unabschließbar und nimmt immer wieder neue Impulse auf, abhängig nicht nur vom Material, das ausgewertet wird, sondern vor allem von der Perspektive des Kanonisierenden, der wiederum nicht (nicht primär) vom Diskurs der Entstehungszeit der infrage kommenden Filme, sondern vom zeitgenössischen Diskurs ausgeht. Mit der Kanonbildung entstehen sozusagen erst die großen Werke: die Filme, von denen wir glauben, dass sie die Möglichkeiten des Mediums auf ihre jeweils eigene Art voll ausschöpfen und denen damit etwas gelingt, das nur das Kino und kein anderes Medium sonst kann.

Hugo, Taschen Verlag
Hugo, 2011, Martin Scorsese © TASCHEN
Coffee-Table-Kanon

Einen wesentlichen Beitrag zum Kanonisierungsprozess liefern Bücher, die die Filmgeschichte anhand einzelner Filme darstellen. Man findet sie in vergleichsweise nüchtern-akademischer Ausrichtung, etwa in den Genrebänden des Reclam Verlags oder in der ebenfalls bei Reclam erschienenen fünfbändigen Box „Klassiker des Films“. Oder in dem immer wieder neu aufgelegten und auf Englisch wie auf Deutsch sagenhaft erfolgreichen „1001 Movies You Must See Before You Die“ („1001 Filme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist“). Die opulentesten Überblicksbände in deutscher Sprache aber sind die im Taschen Verlag erschienenen „100 Filme“-Bände.

Der erste Eindruck beim Lesen des jüngst erschienenen Bandes „100 Filme der 2010er“ ist ein beruhigender: Wenn in nur einem Jahrzehnt derart viel Erhabenes (z.B. The Tree of Life), Depressives (z.B. Melancholia), Zartes (z.B. Liebe), Irrwitziges (z.B. Holy Motors), Kämpferisches (z.B. 12 Years a Slave), Überambitioniertes (z.B. Birdman), alles Abreißendes (z. B. Mad Max: Fury Road), Hochkomisches (z.B. Toni Erdmann), Zeitdiagnostisches (z.B. Get Out), Grausames (z.B. Midsommar) und Formvollendetes (z.B. Porträt einer jungen Frau in Flammen) auf den Leinwänden zu sehen war, kann es allzu schlimm um das Kino noch nicht bestellt sein.

La La Land, Taschen Verlag
La La Land, 2016, Damien Chazelle © TASCHEN

Die Auswahl, die hier getroffen wurde, mag natürlich auch trügen. Der Schwerpunkt liegt auf vielfach bepreisten Arthouse-Filmen. Franchises, die auf lange Sicht vermutlich eher den Niedergang des Mediums befördern, auch wenn sie fast das einzige zu sein scheinen, was den großen Produktionsfirmen zurzeit noch nennenswerten Profit einfährt, werden nur wenige erwähnt (z.B. Avengers 1–4 und Star Wars VII–IX). Die Auswahl, die hier getroffen wird, hat also auch etwas von einer Veredelung. Es geht eigentlich nicht, wie der Klappentext verspricht, um die Filme, die das vorige Kinojahrzehnt „prägten“, sondern um (oft prägende) Ausnahmeerscheinungen. Filme, die daran erinnerten, dass es ein ästhetisch und narrativ innovatives Blockbuster-Kino vor den aktuellen Franchise-Exzessen gab und auch in den USA ein Kino, das zwar auf Rentabilität achtete, aber nicht seine gesamte ästhetische Konstruktion Profitinteressen unterordnete (wie gesagt, Scorsese und Lynch bekommen heute keine Kinofilme von großen Studios mehr finanziert).

In dieser Ballung aber macht diese Zusammenschau Hoffnung und Lust, sich die jüngere Kinogeschichte noch einmal zu vergegenwärtigen. Die Bilder des Bandes sind so ausgewählt und angeordnet, dass man ihn nicht nur gerne liest, sondern auch als Kunstband durchblättern kann. Der Schwerpunkt liegt quantitativ auf dem US-Kino. Dass zum Beispiel das asiatische und vor allem das südkoreanische Kino unterrepräsentiert sind, ist schade. Parasite wird natürlich mit einem Text bedacht, in dem mit vier Filmen nur schwach vertretenen Jahr 2016 wäre aber für Park Chan-Wooks The Handmaiden durchaus noch Platz gewesen; dafür hätte man von mir aus den pompösen, leeren Tenet streichen können. Aber wenn man von persönlichen Vorlieben und Abneigungen einmal absieht – es gibt ja zum Beispiel nachweislich Menschen, die den Filmen Christopher Nolans Tiefe und Bedeutung abringen können –, ist die Auswahl nachvollziehbar. Und auch wenn man etwa einen Film wie Todd Philips‘ Joker nicht mag, kann man seine Bedeutung für das Kino der 2010er Jahre nicht ernsthaft bestreiten.

… eigentlich wie immer

Die Texte informieren kurz und knapp über das Wesentliche – Plot, punktuelle Hinweise auf filmästhetische Besonderheiten, filmhistorische Referenzen, Rezeption – und sind allesamt so geschrieben, dass sie Lust auf die Filme selbst machen. Wer den jeweiligen Film gesehen hat, erfährt allerdings selten viel, was er nicht schon wusste. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet der einleitende Essay „The Big Screen. Anmerkungen zum Kino der 2010er-Jahre“ von Herausgeber Jürgen Müller und Philipp Bühler, der am Beispiel von Quentin Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood den Gang des Mediums während der vorigen Dekade rekonstruiert. Tarantinos jüngster Film bietet sich dafür als ein dem New Hollywood ironisch verpflichtetes, vor Zitaten und Anspielungen nur so strotzendes Werk natürlich an – inklusive Scherze über method acting und der imaginierten Rettung von Sharon Tate vor den Mörder:innen der Manson Family: „Er“ – Tarantinos Film – „spricht von Hollywood als einem Märchen im Sinne bloßer Fiktion, und er sagt zugleich das Gegenteil, indem er die Wahrheit der Fiktion aufweist.“

Das aber ist ein Kinobegriff, der sich in Zeiten der Dominanz des Digitalen und des nie mehr endenden Superheldenlärms in der Defensive befindet, so Müller und Bühler weiter. „Fragen zu Schauspiel und Repräsentation, Rolle und Identität wurden neu verhandelt. (…) Nicht allein das seit Längerem befürchtete Kinosterben und die unaufhaltsam wachsende Konkurrenz von Streaming-Anbietern, auch immer realistischere designte Videospiele stellen ein ganzes Medium infrage.“ Dagegen setzt Tarantinos Film nicht nur Hollywood als Märchen („Once upon a time…“) und als Alptraum, sondern auch Bilder, die das Medium selbst auf verschiedene Weisen feiern: Sharon Tate (Margot Robbie), die sich selbst in einer Nachmittagsvorstellung eines ihrer Filme auf der Leinwand betrachtet und sich begeistert im Saal umschaut, wenn an den richtigen Stellen gelacht wird; Leonardo DiCaprio, der in seiner Rolle als erfolgloser Western-Darsteller zu neuen schauspielerischen Höhen findet, in dem Moment, in dem er sein Inneres für seine Performance nutzbar macht; das Licht in Los Angeles, mit dem sich die langen Autofahrten ins Filmgedächtnis einbrennen.

Womit wir wieder am Anfang wären – in den Worten von Jürgen Müller und Philipp Bühler: „Was also kann das Kino noch? Gibt es Hoffnung auf ein ,New Hollywood‘ und eine gänzlich neue Filmkultur?“ Antworten liefert „100 Filme der 2010er“ keine. Aber man kann im Lese-Durchgang durch ein Kinojahrzehnt noch einmal nachvollziehen, was sich eingebrannt hat in die Erinnerung, was, vielleicht auch nach anfänglicher Begeisterung, verpufft ist und was einem Wahrnehmungen und ästhetische Erfahrungen ermöglicht hat, die man so, in der Form, noch nicht kannte. Das ist natürlich, wie vieles, was mit Filmrezeption zu tun hat, höchst subjektiv. Aber etwas allgemeiner kann man vielleicht doch die begründete Vermutung aufstellen, dass der eigene Filmkanon der 2010er nicht weniger oder, was auch immer das heißt, schlechtere Filme enthält als der subjektive Kanon der Nullerjahre oder der Neunzigerjahre – genügend Filme also, „die sich durch eine originäre Vision auszeichneten und die Möglichkeiten des Kinos als transzendente Erfahrung auch jenseits selbstgenügsamen Kunstkinos und der stillen Provokation des ,Slow Cinema‘ voll ausreizten“ (Müller & Bühler).

Wer „100 Filme der 2010er“ liest, kann jedenfalls den nicht zuletzt recht beruhigenden Eindruck bekommen, dass das vielbeschworene Ende des Kinos auch unter erschwerten Bedingungen ein weiteres Mal auf sich warten lassen wird; und vielleicht ja sogar einfach ausbleibt.

Moonlight, Taschen Verlag
Moonlight, 2016, Barry Jenkins © TASCHEN

 

TASCHEN

100 Filme der 2010er

Jürgen Müller (Hg.)

Hardcover, 19,6 x 25,5 cm, 2,77 kg

880 Seiten

€ 40

taschen.com

 

100 movies of the 2010s