Den Dreh finden

Die Fiktion von Realität: „Bergman Island“ verbindet Leben und Film.

Bergman Island

Mia Hansen-Løve erinnert in ihren Filmen an eines der großen Versprechen des Kinos: eine Welt zu schaffen, die wir auf unsere beziehen können. In „Bergman Island“ arbeitet sie nun das Verhältnis von realer und fiktional verfilmter Erfahrung virtuos ins Filmgeschehen selbst ein. Eine Betrachtung autobiografischer Suggestion, radikaler Subjektivierung und allgemeiner Verständlichkeit. Ein Film, der zugleich daran erinnert, dass die Verbindung von Leben und Film eine poröse bleiben muss und stets mehr verspricht, als das Kino halten kann.

Peter Hein, Sänger der Fehlfarben, skandierte 1980 auf dem Album „Monarchie und Alltag“, dass er genau wisse, wie der Hase läuft: „Ich kenne das Leben / ich bin im Kino gewesen“. Gefolgt von dem Eingeständnis, dass er, „jedes Mal wenn ich sie seh“ nicht mehr weiß, „wie es gehen soll“. Das Kino und das Leben, sie stehen im Verhältnis zueinander, aber es lässt sich schwer beschreiben in welchem genau. Bei den Fehlfarben ist es ein defizitäres: Was man vor der Leinwand an Konsistenz erfahren kann, zergeht in dem Moment, in dem man in der Welt außerhalb des Kinos eine nicht mehr weiß, was los ist; bei dem narzisstisch-desillusionierten lyrischen Ich aus „Monarchie und Alltag“ („Ich schau mich um und seh nur Ruinen“) genügt da schon die Begegnung mit einer Frau, in die dieses Ich, vermutlich heimlich, verliebt ist, und es geht nichts mehr.

Im Kino bekommt man die Welt vorgeführt, ohne in sie involviert zu sein, man schaut, ohne dass einer zurückblicken und etwas von einem verlangen würde. Und die Welt, die sich da entfaltet, versteht man, weil der Film, der uns eine Geschichte erzählt, darauf angelegt ist, dass man diese Geschichte versteht. Ausnahmen bilden Filme, die bewusst rätselhaft sind; das ist dann anstrengender, aber man nimmt wahr, dass einem Kohärenz gerade verweigert wird, und das versteht man dann wieder. Das ist eines der großen Versprechen des Kinos: Es präsentiert uns eine Welt, die wir auf unsere beziehen und die wir verstehen können. Und passieren kann uns dabei nichts. Wir werden nicht ausgelacht, weil wir „nicht den Dreh finden“ (Peter Hein), sondern können die imaginäre und empathische Verbindung mit Menschen genießen, ohne dass sie von uns wissen.

Was für Kino-Zuschauerin und -Zuschauer gilt, gilt für viele Kino-Autor:innen auch. Man versteht im Kino nicht unmittelbar die Welt, man versteht das Geschehen einer künstlich erschaffenen Welt und kann mithilfe des Mediums erfahren, was man in unmittelbarer Interaktion mit der Welt außerhalb des Kinos nicht in dieser Form vermag: ihr Konsistenz oder zumindest eine selbsterschaffene Form verleihen. Die Autorin, die eine solche Welt erschafft, kann, vermute ich, eine ähnliche Erfahrung machen – ich kenne das Leben, ich habe sieben Filme gedreht.

Fixpunkte finden

In den Filmen der Regisseurin Mia Hansen-Løves kommt das Verhältnis von Leben und Kino, ohne dass es in diesem Zuge definiert oder gar geklärt werden müsste. Es genügen Hinweise, die man Interviews mit Hansen-Løve entnehmen kann, um zu wissen, dass das Erzählte vielleicht nicht in all ihren Filmen, aber doch in den meisten, an selbsterlebte Erfahrungen, Geschichten aus ihrer Familie oder auch nur an Familienkonstellationen rückbinden lassen (letzten Endes nicht vom Publikum, sondern von denen, die jeweils dabei waren): die erste Liebe, die auf nicht-glückliche Weise sehr, sehr lange andauert in Eine Jugendliebe (Un amour de jeunesse), die Geschichte des eigenen Bruders, der auch am Skript mitgeschrieben hat, in Eden, der Selbstmord des Produzenten ihrer Filme und der Versuch seiner Frau, die Firma weiterzuführen in Der Vater meiner Kinder (Le père de mes enfants), die Figur der Mutter in Alles was kommt (L’avenir).

L’avenir / Alles was kommt, 2016, Mia Hansen-Løve

In diesen Filmen wird etwas Selbsterlebtes aufgenommen und zum Ausgangspunkt für eine künstlich erschaffene Welt, bevölkert von fiktiven Figuren, deren Tun und deren Unterlassungen aber so inszeniert sind, dass man ihr Schicksal als Zuschauer:in auf das eigene Leben beziehen kann. Die Filme Mia Hansen-Løves sind – auch – deswegen als Medium zur Verarbeitung gelebter Erfahrung so überzeugend, weil sie vom Besonderen und Allgemeinen zugleich erzählen. Eine Jugendliebe ist tatsächlich diese eine besondere, und sie ist eine exemplarische Geschichte einer Liebe junger Menschen aus dem Kleinbürgertum im Westeuropa der Gegenwart. Der Vater meiner Kinder ist dieser eine spezifische Vater und sein Verlust ist eine exemplarische Geschichte des Verlustes eines Vaters für die Kinder und die Familie. Alles was kommt erzählt von der Offenheit des bislang eingefahrenen Lebens nach dieser einen besonderen Scheidung und von einem exemplarischen Neubeginn.

Es ist dabei unerheblich, wie „genau“ die Filmerzählungen entlang der realen Fixpunkte gebaut sind („reale Vorbilder“ wäre schon zu stark formuliert). Die Differenzen werden da deutlich, wo sie belegt sind. Der Filmproduzent Humbert Balsan, dessen Selbstmord der Ausgangspunkt für die Geschichte von Der Vater meiner Kinder bildet, hat sich 2005 in seinem Büro erhängt und nicht, wie im Film, auf der Straße erschossen. Camille aus Eine Jugendliebe wird Architektin und nicht Regisseurin. Für die ästhetische Erfahrung, die man mit den Filmen Mia Hansen-Løves machen kann, sind diese eh nicht zu beantwortenden Fragen nicht entscheidend, und das in diesem Zusammenhang oft zu hörende Adjektiv „semi-autobiografisch“ führt in die Irre, weil es eine genau bestimmbare Mengenverteilung – halb dieses und halb jenes – verspricht. Tatsächlich aber geht es beim Autobiografischen in der Kunst (wie auch in Autobiografien selbst) um die erfolgreiche Suggestion des Autobiografischen, nicht um die Frage nach dem tatsächlichen Geschehen, dessen Aufruf vor allem die Funktion hat, das Erzählte zu plausibilisieren und den autobiografischen Eindruck also überhaupt erst herzustellen und dann weiter zu verstärken.

Maßgeblich hingegen ist die Erfahrung, die man als Zuschauer mit diesen Filmen machen kann,  auch wenn man über derlei Dinge nicht nachdenkt. Die Wirkung entfaltet sich trotzdem, wie das meiste zwischen Leinwand und Zuschauer sich entfaltet, ohne dass man darüber bewusst nachdenken müsste. Mit ihrem siebten Langfilm hat Mia Hansen-Løve nun – soweit ich sehe – zum ersten Mal das Verhältnis von realer Erfahrung und Filmbild sozusagen reflexiv in das Filmgeschehen selbst geholt.

Radikal subjektive und zugleich prototypische Situationen und Charaktere entwerfen

Bergman Island verweist bereits im Titel auf den schwersten Brocken in der Geschichte des Kinos, wenn es um das Verhältnis von erlebtem Leben und erlebbaren Bildern geht. Im Unterschied beispielsweise zu Stanley Kubrick, der in seinen Filmen von Ideen ausgeht. Bei Bergman ist das eigene Leben Ausgangspunkt und Material, das in den Bildern ver- und bearbeitet wird. Es wandert etwas von der Biografie ins Werk, schreibt Marion Löhndorf in ihren Annäherungen an die Filme Bergmans. „Auch besitzt das Zurückkommen auf etwas schon zuvor Bearbeitetes gelegentlich nahezu exorzistische Züge, wenigstens aber den Duktus von Tagebucheinträgen oder Memoiren.“

Bergman und die Frauen, Bergman und Gott, Bergman und der Tod – wer wissen will, wie es in seiner Ehe zuging (ich weiß nicht mehr, auf welche seiner fünf Ehen sich Bergman in diesem Fall bezog), müsse sich nur das Gespräch im Bett zwischen Marianne (Liv Ullmann) und Johan (Erland Josephson) in Szenen einer Ehe (Scener ur ett äktenskap) ansehen, hat Bergman in einem Interview erzählt, das wäre relativ Eins-zu-eins. Um diese Filme, bei aller metaphysischen Schwere, als Tagebucheinträge zu sehen, muss man nichts Genaues über Bergman wissen. Die autobiografische Suggestion stellt sich auch so ein. Löhndorf: „Die Kunst lag darin, noch im detailliertesten Bekenntnis des Privaten prototypische Situationen und Charaktere zu entwerfen“.

Faro, die Bergman Insel
Bergman Island, 2021, Mia Hansen-Løve

Die zahlreichen Verweise auf Leben und Werk Bergmans in Bergman Island sind nicht als verborgene intertextuelle Spielereien für Kennerinnen und Kenner in die Bilder eingewoben. Mia Hansen-Løve interessiert sich generell nicht für Nerdiges. Die unspektakuläre und gleichwohl traumsicher souveräne Bildgestaltung lässt erkennen, dass das, was hier passiert, von möglichst allen verstanden werden soll.

Ingmar Bergman ist durchgängig präsent als Fixpunkt der Auseinandersetzung mit der Durchdringung von Film und Leben, das hier als Beziehungs- und als Künstler:innenleben gefasst wird; oder genauer als Frage danach, wie beides sich verbinden lässt. Die Filmemacher Chris (Vicky Krieps) und Tony (Tim Roth) fahren in Hansen-Løves Film zur Bergman-Woche auf die Ostseeinsel Farö, auf der Bergman über vierzig Jahre lang gelebt und gedreht hat. Sie leben im Haus des Regisseurs, das heute als Künstlerresidenz genutzt wird, und arbeiten. Chris quält sich mit einem Drehbuch herum, Tony, älter und erfolgreicher als seine Partnerin, telefoniert mit dem Produzenten seines neuen Films, spricht auf Panels.

Im Sprechen der Figuren über Bergman entfalten sich die Abstände und Überschneidungen zum großen Meister: das Künstler- und das Beziehungsleben damals bei Bergman (das eine untrennbar verbunden mit dem anderen), das  Künstler- und Beziehungsleben heute. Ob Bergman an Gott geglaubt hätte, fragt Chris beim Weinumtrunk mit dem schwedischen Filmkritiker Stig Björkman (gespielt von Stig Björkman, der wiederum gemeinsam mit dem französischen Regisseur Olivier Assayas ein Buch mit Gesprächen mit Ingmar Bergman herausgegeben hat; Assayas wiederum ist verheiratet mit Mia Hansen-Løve, das Paar hat eine Tochter, Chris und Tony haben auch eine Tochter). Und ob seine Familie ihm egal gewesen wäre. Die Antwort ist naheliegend: Wer in seinem Leben massenhaft Filme gedreht hat, hatte keine Zeit, die Windeln seiner Kinder zu wechseln. Ob er jetzt ein schlechtes Gewissen haben sollte, fragt Tony, der erfolgreichere der beiden Filmemacher, halbironisch.

Das Unsichtbare sichtbar werden lassen

Das ist einer von vielen Momenten, in denen Bergman Island sozusagen den Abgleich sucht. Ein weiterer ist noch expliziter: Es ginge ihm in seinem nächsten Film um das Unsichtbare, das in einem Paar zirkuliert, sagt Tony. Ein durchaus Bergmansches Programm, also das Programm des bereits gennanten Szenen einer Ehe, der Filme Herbstsonate (Höstsonaten) und Sarabande (Saraband), und weniger das Programm von Das siebente Siegel (Det sjunde inseglet) oder Licht im Winter (Nattvardsgästerna). Die Differenz ist unübersehbar, wenn man ein paar Filme von Mia Hansen-Love und Ingmar Bergman kennt: Im einen Fall wird das Unsichtbare in den Beziehungen deutlich gemacht, indem die Figuren direkt artikulieren, was sie an bis dahin geheimen, verborgenen Gedanken über den anderen und das eigene Leben mit sich herumgetragen haben. Eine verbale Sprengung der bürgerlichen Fassade, und dahinter kommen Kälte, Angst und Hass zum Vorschein. Am eindrucksvollsten und direktesten in Szenen einer Ehe und dem Sequel Sarabande, während der Tiraden von Johan, der mit einer verbalen Gewalt auf seine Frau und seinen Sohn eindringt, die eine beklemmende Wucht entfaltet, inklusive Fremd- und Eigenscham für den, der sich in dem, was da passiert, in welcher Weise auch immer Weise wiedererkennt.

Bergman Island
Vicky Krieps und Tim Roth in Bergman Island

In Bergman Island bleibt es bei kurzen Hinweisen, Momenten zwischen den Figuren, die mögliche Konfliktlinien andeuten, ohne sie wirklich auszuführen. Eine Dialogzeile, ein Blick, und dann kommt meist schon der Schnitt. In einer Szene aber verweist der Film auf die immer auch lustvolle Grausamkeit der Figuren in den Filmen Bergmans. Chris findet das Notizbuch ihres Mannes. Dort sind Ideen für den nächsten Film niederlegt, auch in Form von Zeichnungen. Ein Paar beim Sex, auf einer der nächsten Seiten ist die Frau dann gefesselt, am Schluss wird ihr ein Eisenhaken eingeführt. Der in den Torture-porn-Skizzen sichtbar werdende Sadismus (ob als Wunsch oder als Angst bleibt unklar) schwebt als Drohung über dieser vergleichsweise austarierten Beziehung und verbindet sie so mit den zerquälten und zerstörten Paaren aus den Filmen Bergmans.

Das in Paarkonstellationen zirkulierende Unsichtbare inszeniert Mia Hansen-Løve mit einer Leichtigkeit, die als filmische Atmosphäre gleichsam einen impliziten Einspruch gegen die niederdrückende Schwere des Bergmanschen Gesamtwerks formuliert. Eine Frühlingsromanze deutet sich an, aber es bleibt offen, wie weit das alles geht. Chris’ writer’s block wird konterkariert vom Erfolg Tonys, ohne dass ihre Gespräche über die Blockade eskalieren. Und etwa ab der Hälfte von Bergman Island zieht Hansen-Løve eine weitere Ebene ein, die das Ganze noch einmal auffächert.

Ebenen auffächern

Wir sehen den Film, den Chris schreibt, wenn sie Tony von ihrem Drehbuch erzählt. Der Film-im-Film, dessen ontologischer Status unklar bleibt (sehen wir die Vorstellung der Autorin oder sehen wir den bereits fertigen Film?), ist andeutungsweise eine Fortführung der Geschichte aus Eine Jugendliebe, womit Vicky als Figur vollends in Verbindung mit der Autorin Hansen-Løve tritt. Amy (Mia Wasikowska) und Joseph (Anders Danielsen Lie) waren einst ein Paar und haben nie aufgehört, innerlich aneinanderzuhängen. Bei einer Hochzeit auf, natürlich, Farö treffen die beiden einander nach langer Funkstille wieder. Warum sie ihn in ihrem Film so negativ dargestellt hätte, fragt Joseph Amy beim Übersetzen auf der Fähre nach Farö. Sie ist verwundert oder tut nur so, wer könnte das entscheiden – eigentlich hätte sie die Figur in einem positiven Licht erscheinen lassen wollen. Es folgen Sauna, Sex, ein sehr Bergmansches, wenn auch relativ gemäßigtes Beziehungsgespräch im Bett, Abschied. Dann die nächste Drehung: Chris beim Dreh mit Mia und Anders, der letzte Drehtag, vor der Abreise trinken Regisseurin und Schauspieler noch einen letzten Absacker, es knistert, wie man so sagt – das Unsichtbare –, und dann trennt man sich doch.

Auch hier ist nicht klar, welchen Status die Szene vom Dreh des Films-im-Film hat. Eine Vorausschau oder ein Traum, den Chris auf dem Sofa in einem der Häuser von Ingmar Bergman träumt. Mit und in dieser Unklarheit formuliert der Film, wenn man so will, seine Poetologie: Das Leben und das Erzählen sind verwoben miteinander, immer dann, wenn man Filme macht, die etwas über die Welt mitzuteilen haben (anders als Filme, die dazu gemacht sind, vom Leben und von der Welt, in der es gelebt werden muss, für zwei Stunden wegzukommen, anders also als die meisten Filme).

Mia Wasikowska in Bergman Island

Indem unklar bleibt und notwendigerweise bleiben muss, was „wirklich“ passiert ist und was nicht, und das Tun und Lassen seiner Figuren trotzdem im eingangs gemeinten Sinne kohärent sind, macht der Film auch klar, dass seinem Medium mit seinen weltsortierenden Potenzialen zugleich eine konstitutive Offenheit innewohnt. Es gibt so viele Erfahrungen, wie es Perspektiven auf Erfahrungen gibt. Die Bedeutungen des Erlebten lassen sich nicht fixieren, nicht von denen, die es selbst erlebt haben, und auch und schon gar nicht von denen, denen von diesem Erlebten erzählt wird, wie gebrochen, gespiegelt und verschoben auch immer. Und in dieses Bedeutungsoffene können Zuschauer:innen dann ihre eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen, Wünsche und Ängste einspeisen. In dieser Verbindung erst entsteht die Konsistenz von Filmwelten, die subjektiv und allgemein zugleich sind. In ihr erst bildet sich der Eindruck, man kenne das Leben, nachdem man im Kino war und gesehen hat, was andere gedreht haben.

Bergman Island ist auch deswegen, bei aller Leichtigkeit, ein komplexer und wahrhaftiger Film, weil er, indem er so vieles offen und im Unklaren lässt, spürbar werden lässt, dass die Verbindung von Film und Leben eine poröse bleiben muss. Spätestens wenn man das Kino verlässt und den Dreh selbst wieder einmal nicht mehr findet, eben weil die Versprechen des Kinos jenseits des Saals nicht gehalten werden können.