Wir sind dann wohl die Angehörigen (2022)

Wie ein 13-Jähriger die Entführung seines Vaters erlebt – im Stream

Schmid, Wir sind dann wohl die Angehörigen
Wir sind dann wohl die Angehörigen, 2022, Hans-Christian Schmid

Wir sind dann wohl die Angehörigen: 1996 wird der Literatur- und Sozialwissenschaftler, Autor, Mäzen und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung Jan Philipp Reemtsma entführt. 33 Tage verbringt er in einem Keller. Die Täter wurden gefasst, Reemtsma befreit, das gezahlte Lösegeld ist nur in Teilen wieder aufgetaucht. Der Zigarettenfirmenerbe gilt mit einem Vermögen von 700 Millionen Euro als einer der 150 reichsten Männer Deutschlands. Die Geschichte würde sich hervorragend für ein aufgekratztes Netflix-True-Crime-Doku-Format eignen: das Leiden des Opfers, Psychogramme der Täter, Interviews mit den Ermittlern.

Hans-Christian Schmids Film Wir sind dann wohl die Angehörigen nimmt das Thema aus dem Genre allerdings raus und verschiebt die Perspektive, hin zu den Titelhelden, der Ehefrau Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) und Johann Scheerer (Claude Heinrich), ihrem Sohn. Und auf die Interaktionen mit den Ermittlern, die die Situation eher suboptimal managen. Lösegeldübergaben gehen schief, die Kommunikation mit den Entführern klappt nicht.

So weit der Plot, der hier aber nicht im Zentrum steht. Hans-Christian Schmid interessiert sich, wie eigentlich immer in seinen Filmen, sehr für seine Figuren und schaut auf sie mit einem empathischen, aber nie übergriffigen Blick. Die Distanz bleibt gewahrt, was in Wir sind dann wohl die Angehörigen passiert, geschieht langsam und in eher matten Farben. Bald sind alle erschöpft, vom Warten, davon, dass immer alles schiefgeht. Das Interesse des Films ist auch ein analytisches. Schmid hat einen Film über eine Entführung gedreht, der ohne Suspense und Action auskommt.

Eine Art Coming-of-Age-Geschichte nicht zuletzt. Johann Scherer, auf dessem autobiografischen Buch der Film basiert, wird von der Entführung seines Vaters mitten während Pubertätskonflikten und Abnabelungsprozessen getroffen. Alles das – die Fehler, die Zermürbung, die Entwicklung eines Jugendlichen, der in eine extreme Situation gerät – wird hier ohne Aufregung, aber, wie gesagt, mit großer Einfühlung aufgezeichnet und verdichtet.

Erhältlich gegen moderates Entgelt auf diversen Plattformen, z.B. hier

 

Wir sind dann wohl die Angehörigen
Deutschland 2022, Regie Hans-Christian Schmid
Mit Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi, Hans Löw
Laufzeit 118 Minuten