Wes Anderson heiratet Roald Dahl

The Wonderful Story of Henry Sugar u.a. – auf Netflix

Dahl, Anderson, Henry Sugar
The Wonderful Story of Henry Sugar, 2023, Wes Anderson © Roger Do Minh / Netflix

Wes Anderson hat vier Geschichten von Roald Dahl zum Leben erweckt – in seinem eigenwillig verkünstelten, säbelscharf-süßlichen Stil. Starring Benedict Cumberbatch, Ralph Fiennes, Rupert Friend, Ben Kingsley et al.

Ein Märchen über einen Mann, der ohne Augen sehen kann. Eine Horrorgeschichte über einen gemobbten Jungen. Eine Geschichte über einen Grimmsch’schen Rattenfänger und eine über einen giftigen Engländer. Der Desillusionist Wes Anderson ist eine Künstler-Ehe mit Netflix und Roald Dahl eingegangen, um vier schwarzhumorige Geschichten des britischen Schriftstellers zu erzählen, die wie Fantastic Mr. Fox (2009) vor Grausamkeit nur so brodeln. Es mögen kurze Filme geworden sein, aber keineswegs unbedeutende.

Der erste Streich in Wes Andersons Tetralogie ist mit 41 Minuten zugleich der längste, quasi der Signature-Film der Reihe. Es handelt sich um eine Adaption von Dahls gleichnamiger Kurzgeschichte The Wonderful Story of Henry Sugar aus dem Jahr 1977, und im Vergleich zu den anderen wirkt sie geradezu hoffnungsvoll. Dahl wird wie ein netter Märchenonkel gespielt von Ralph Fiennes, der beginnt, eine Geschichte zu erzählen: Henry Sugar (der stets adrette Benedict Cumberbatch) war ein stinkreicher, gieriger Dandy, heißt es, der auf ein altes Manuskript mit einem magischen Geheimnis stieß. In dem Buch liest Henry den Bericht eines Arztes namens Dr. ZZ Chatterjee (Dev Patel) über einen Mann (Ben Kingsley), der sehen kann, ohne seine Augen zu benutzen. Henry ist von dieser Superkraft besessen, aber sobald er den Trick beherrscht, setzt – wie bei Dahl üblich – die Desillusionierung ein.

Wes Anderson hat zwar kürzlich behauptet, er habe „keine Ästhetik“, aber seine Liebe zu antiquarischen Details, Symmetrie und Retro-Optik steht hier in ihrer vollen Blüte, genauso wie seine Überzeugung, dass echte Verzauberung ein gewisses Maß an augenzwinkernder Künstlichkeit erfordert. Desillusionierung ohne Entzauberung sozusagen. Je mehr wir die Nähte sehen können, desto großartiger. Seine Darsteller – und es sind diesmal leider ausschließlich männliche – erzählen die Geschichten direkt in die Kamera und arbeiten dabei wie eine extravagante Theatertruppe. Wenn Henry von einem Raum eines Hauses in einen anderen geht, bewegt sich das Gebäude mit ihm und richtet sich in einer Flut sich bewegender Wände neu aus. Man kann nie ganz sicher sein, wann sich die Bilder ändern werden – ob sich die Szenerie plötzlich verwandelt oder ob einer Hauptfigur der Requisiten-Schnurrbart abgenommen und dann einem stillen Bühnenarbeiter übergeben wird, der ins Bild kommt und wieder verschwindet. Das Erstaunlichste an dieser Kurzfilmsammlung ist, dass sie der eigenen Fantasie dennoch freien Raum lässt.

Wenn The Wonderful Story of Henry Sugar eine Art „Superheldenkurzfilm“ ist, dann ist The Swan vielleicht Wes Andersons erster Horrorfilm. Ein 17-Minüter mit gruseligen, getönten Bildern, die aber natürlich immer noch die typisch Anderson’sche Süße besitzen. Rupert Friend spielt einen Mann, der sich an den Tag erinnert, an dem er als Kind von zwei älteren Schuljungen gemobbt wurde und schlendert dabei durch Hecken und Weizenfelder, die versteckte Türen verbergen, durch die Bühnenarbeiter und Nebenfiguren huschen. Die Kinder fesseln den Jungen und zwingen ihn, sich auf Bahngleise zu legen. Er duckt sich vor Angst, als ein Zug über ihn hinwegrast, und überlebt, nur damit sie ihn als nächstes mit einem Jagdgewehr wie einen Vogel abschießen.

Anderson, Friend, The Swan, Dahl
The Swan, 2023, Wes Anderson

The Rat Catcher handelt von zwei Männern (Richard Ayoade und Rupert Friend), die an ihrem Arbeitsplatz ein Rattenproblem haben. Ralph Fiennes’ haariger Kammerjäger schaut vorbei, der mit seinen grauslichen Nägeln und gelben Zähnen wie ein Nagetier aussieht, da er der Meinung ist, dass es zum Fangen einer Ratte entscheidend ist, sich wie eine zu verhalten. Es ist der mit Abstand abstrakteste Film von allen. Vielleicht ist die Gesellschaft von Ratten der von so manchem Menschen vorzuziehen.

Der vierte Dahl-Anderson ist wie The Rat Chatcher und The Swan 17 Minuten lang und heißt Poison. Er handelt von einem Engländer (Benedict Cumberbatch), der glaubt, dass sich unter seiner Decke eine giftige Schlange zusammengerollt hat, während er im Bett las. Ein indischer Arzt (Ben Kingsley) wird herbeigeholt. Aber er kann nicht viel tun, um einen Schlangenbiss zu behandeln, der noch nicht passiert ist, und die Spannung zwischen den beiden wächst, bis der Engländer eine rassistische Tirade ausspuckt, in der er den Arzt eine „bengalische Abwasserratte“ nennt.

Unterm Strich sind diese kurzen Filme (man kann sie getrost alle auf einmal ansehen) womöglich Wes Andersons bisher finsterster Blick auf das Menschsein. Es ist eine perfekte Künstler-Ehe: zwischen der Liebe zum verspielten Wunderbaren des amerikanischen Filmemachers auf der einen Seite und den makaber-melancholischen Erzählungen von Roald Dahl. Da Netflix im Jahr 2021 die Rechte am Gesamtwerk des britischen Autors gekauft hat, kann man davon ausgehen, dass es noch mehr davon geben wird.