Der Watschenmann

Die 94. Oscar-Nacht: Apple schreibt Geschichte und Will Smith bringt fragwürdigen Schwung in die Show.

CODA, 2021, Siân Heder (Oscar-Hauptgewinner 2022)

„Die Oscars! Wo Filmliebhaber sich vereinen – und fernschauen.“ Wanda Sykes brachte es gleich zu Beginn der 94. Oscar-Nacht auf den Punkt. Es spiegelt ganz gut das Dilemma der Oscars wider, wie verzweifelt sie versuchen, die Menschen wieder ins Kino zu bekommen, während sie wollen, dass sich alle vor ihren Fernsehern versammeln (um letztlich dabei zuzusehen, wie die meisten Preise nach der Papierform vergeben werden und um einen Paukenschlagmoment zu erleben, der sich als Schlag ins Gesicht verdienter Preisträger:innen erweist – davon später).

Vor einigen Jahren stritt Hollywood darüber, ob Filme auf Streaming-Plattformen überhaupt als „Filme“ gelten. Jetzt hat Siân Heders kuscheliges Indie-Drama CODA, das von Apple TV+ vertrieben wird, den Oscar für den Besten Film gewonnen. Nach mehr als dreißig Jahren der Indie-Filmbewegung in Amerika ist CODA auch der erste Sundance-Hit, der dies je geschafft hat – und das mit einer hauptsächlich gehörlosen Besetzung. Zum großen Teil ist das wohl Netflix zu verdanken. Der Streamer, der einst von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences auf Abstand gehalten wurde – und den Steven Spielberg einst daran zu hindern versuchte, mehr Nominierungen für den Besten Film zu erhalten, indem er direkt zum Board of Governors der Academy ging – hat die Weichen für den Streamer von Apple gestellt.

War vor drei Jahren Hollywood noch in einen Kampf um die Zukunft des Kinos verwickelt – darüber, was genau einen Film ausmacht – und die Oscars ein metaphorischer Boxring, so sind sie jetzt buchstäblich zu einem Boxring geworden. In einem echten WTF-Moment, der alle Zuschauer:innen verblüffte, stürmte Will Smith auf die Bühne und verpasste Chris Rock eine Ohrfeige, nachdem der Komiker einen Witz über die kurz geschorenen Haare seiner Frau Jada Pinkett Smith gemacht hatte (sie leidet an Alopezie, eine Erkrankung, die zu Haarausfall führt). Smith schrie Rock danach noch von seinem Sitz aus an. In den USA fror die Fernsehsendung ein und verstummte. Im Ernst, ich habe das noch nicht ausreichend verarbeitet. Sollte diese hässliche Szene nicht echt gewesen sein, dann ist Will Smith ein besserer Schauspieler, als ich es für möglich gehalten habe.

Nur nur wenige Augenblicke später ging Smith auf die Bühne und nahm seinen programmierten Oscar als Bester Hauptdarsteller in King Richard entgegen. Zu sagen, es war awkward, wäre eine gewaltige Untertreibung. „Richard Williams war ein erbitterter Verteidiger seiner Familie“, sagte er über seine Rolle und begann zu schluchzen. „In dieser Zeit meines Lebens, in diesem Moment, bin ich überwältigt von dem, was Gott mich auffordert, in dieser Welt zu tun und zu sein.“ Seine missionarische, überlange, selbstverliebte „vessel of love“-Rede darüber, dass er ein „Gefäß der Liebe“ sein möchte, fühlte sich echt an. Aber ich frage mich auch, ob Will Smith seine Rollen als Muhammad Ali und exzentrischer Vater der Williams-Schwestern wohl ein wenig zu ernst nahm. Seine Entschuldigung galt übrigens nur seiner Wiedereinladung, nicht aber seinem Prügelopfer (Chris Rock hat ja ziemlich souverän reagiert und auf eine Anzeige verzichtet). Er bekam Standing Ovations, aber kaum jemand konnte sich das ansehen, ohne sich fremd zu schämen.

Update 29. März: Mittlerweile hat Smith sich entschuldigt.

Begonnen hatte die Gala eher harmlos. Nach zwei Jahren der Pandemie schwebten wieder maskenlose Promis über den Red Carpet ins Dolby Theater. Nach mehreren Jahren ohne einen einzigen Moderator begannen die Oscars mit drei von ihnen. „In diesem Jahr hat die Academy drei Frauen als Gastgeberinnen eingestellt“, sagte Amy Schumer und flachste frech: „Weil es billiger ist als einen Mann einzustellen.“ Die Komikerin und ihre Kolleginnen Regina Hall und Wanda Sykes machten politische Witze über Floridas „Don’t say gay“-Gesetz und Covid-Witze, für die es wohl noch zu früh war. Es gab offenbar genug Zeit für Werbungen (vor allem für Disney, dem der Sender ABC gehört), und, ähem, zwei Lieder aus dem Disney-Animationsfilm Encanto, aber nicht für die acht Kategorien, die aus der Live-Show gestrichen worden waren und in hektischen Zuspielern dazwischen geschnitten wurden.

Die schönste Rede des Abends kam in Gebärdensprache von Troy Kotsur, der als erster gehörloser Mann den Oscar als Bester Nebendarsteller in CODA gewann, und das höchst verdient. Es war ein wirklich wunderschöner Moment mit einer sehr persönlichen, herzerwärmenden Rede – gefolgt allerdings von einem klobigen Übergang zu Chris Evans, der uns seinen neuen Film vorstellte, in dem er Buzz Lightyear aus Toy Story seine Stimme leiht.

Es kommt schlimmer. Eine Schweigeminute und ein paar Power-Point-Folien für die Ukraine wurden gesäumt von einer Wodka-Werbung. Um die Geschmacklosigkeit zu toppen, war die „In Memoriam“-Montage mit einer überschwänglichen, tanzenden Gospel-Performance untermalt, die von den Toten komplett ablenkte. Der Tribut an die verstorbenen Künstler:innen wäre allerdings ohnedies untergegangen, weil alle noch fassungslos vom Smith-Ausraster waren. Zwei Fan-Preise für Zack Snyders Justice League und Army of the Dead hatten null Mehrwert. Ach so, und „Aquaman“ Jason Momoa rülpste auf der Bühne.

Will Smith hat es überdeckt, aber es gab weitere Preise. Remember? Dieses Ding für herausragende Leistungen. Jane Campion hat die Beste Regie für The Power of the Dog gewonnen (zwar nur ein Preis bei zwölf Nominierungen, aber ein wichtiger). Kenneth Branagh gewann den Preis für Best Original Screenplay für Belfast (strittig) und Drive My Car gewann den Preis für Best International Film – (absolut unstrittig). Dune nahm wenig überraschend sechs Oscars in hauptsächlich technischen Kategorien mit nach Hause. Jessica Chastain wurde zur besten Schauspielerin gekürt (wir lieben sie), Questlove gewann für seine Doku Summer of Soul, ein bemerkenswerter Akt der Kulturarchäologie.

Das Problem mit solchen Smith-Ego-Momenten ist, dass sie ablenken von den Dingen, die tatsächlich wichtig sind, nämlich die Filme und deren Schöpfer:innen. Ein Moment, der zumindest meines Erachtens fast noch schlimmer war als die Live-Attacke gegen Rock: Man feiert The Godfather doch nicht mit einem Rapper (P Diddy), der die lebenden Legenden Francis Ford Coppola, Al Pacino und Robert DeNiro vorstellt! Dann waren da noch ein Snowboarder, ein Skater und ein Surfer, die „60 Years of James Bond“ präsentierten. Warum? Weil Bond-Filme Extremsport sind?

Ganz generell schienen an diesem Abend die Presenter irgendwie aus dem Hut gezaubert worden zu sein. Die ganze Show und ihre Anbiederungsversuche an ein jüngeres Publikum hatten letztlich die Anmutung eines faulen Tricks. Dabei sollten die Academy Awards nicht die Wächter des gepflegten Marketing-Kasperltheaters sein, sondern die Wächter der hohen Filmkunst. Wieder ein Jahr verspielt.