Brief aus Berlin, im Dezember. Wenn es um die von langer Hand vorbereiteten Großereignisse der Filmindustrie geht, die sogenannten Tentpole-Movies, dann ist Berlin natürlich auch nicht so viel anders als, sagen wir mal, Hintertupfingen – wobei Hintertupfingen wahrscheinlich gar kein Kino mehr hat, während die Leinwände in der Großmaulstadt Hunderte zählen. Jedenfalls wartet man hier wie dort wie im Rest der Welt auch ungeduldig auf die heißersehnte Fortsetzung von Avatar, die diese Woche endlich ins Kino kommt. Nein, falsch, vielmehr so: diese Woche kommt eine vollkommen überflüssige Fortsetzung von Avatar ins Kino. Sie kann nur überflüssig sein, wenn es sich um eine Fortsetzung handelt. Wir erinnern uns nur ungern, aber wir erinnern uns doch: 2009 brach das urfade, schwer pathetische und vor Ethno-Öko-Kitsch nur so triefende Bombasto-Werk zum großen Erstaunen nicht weniger vernunftbegabter Menschen alle verfügbaren Rekorde. Sogar die von Titanic, womit „the king of the world“ (vulgo: James Cameron) sich selbst überholte. Muss man ja auch erstmal fertigbringen. Das Fortsetzungsding heißt Avatar: The Way of Water, dauert die Kleinigkeit von dreieinviertel Stunden (der erste Teil brachte es auch schon auf über 160 endlose Minuten), erfordert das Tragen einer 3D-Brille und wird sich auf den Leinwänden ausbreiten wie ein blaugrüner Schimmelpilz; denn Weihnachten steht vor der Tür und das zugehörige Geschäft will gemacht werden.
Maverick/Tom Cruise allerdings wäre nicht Tom Cruise/Maverick, wenn er da nicht ein Wörtchen mitzureden hätte; Top Gun: Maverick setzt demnach zu einer zweiwöchigen Ehrenrunde durch die Kinos an und bietet das Kontrastprogramm: Testosteron-geschwängertes Haudrauf-Kino versus ganzheitliche Touchy-Feely-Action, Hauptsache, es kracht.
Und was machen die anderen? Die Freunde der Filmkunst, die romantisch Veranlagten, die Lärmempfindlichen, die Hollywoodallergiker? Die haben in Berlin zumindest eine Chance beziehungsweise mal wieder Glück gehabt, denn die hiesigen, ohnehin nicht eben wenigen Programmkinos bieten üppige Alternativen. So präsentiert beispielsweise das mittlerweile hochangesehene Festival „Around the World in 14 Days“ seit 2006 alljährlich im November/Dezember eine erlesene Auswahl hochkarätiger Arthouse-Perlen – für die allerdings z.B. fleißige Viennale-Besucher:innen nicht extra anreisen müssen, ist die Schnittmenge zwischen den dort und hier gezeigten Filmen doch beträchtlich. Sodann werden im Rahmen des Doc.Berlin Festivals im schönen alten Kino Babylon – das ist das mit der Kino-Orgel – 27 kurze und lange Dokumentarfilme zu sehen sein; darunter Berlin Bytch Love von Heiko Aufdermauer und Johannes Girke, im dem ein junges Ausreißer-Pärchen zwischen dem coolen Versprechen der Metropole und der Bitternis ihrer Wirklichkeit einen Weg finden muss.
Wer’s lieber realitätsfern-nostalgisch hat, kann sich am Weihnachtsmarkt im Nikolaiviertel den ganzen Monat über und für lau die gute alte Feuerzangenbowle anschauen und das titelgebende Getränk dazu schlürfen – aber aufgepasst!, nur einen „wönzigen Schluck“.
Ernsthaften Kinogeher:innen hingegen sei, passend zu den Temperaturen, ein Episodenfilm namens Sibirisch für Anfänger empfohlen. Sieben tragikomische Geschichten in lakonischer Tonlage setzen Stepan Burnashev und Dmitry Davydov, die den Film auch geschrieben und produziert haben, irgendwo in der Tundra in Szene, sozusagen für jeden Tag in der Woche eine, doch so etwas wie Sonntagsfrieden will sich in keiner von diesen einstellen. Denn in Sibirien ist es bekanntlich bitterbitterkalt und man muss sich wärmen, am besten von innen und bevorzugt mit Wodka. Das bleibt nicht ohne Folgen, führt Alkohol doch zur Enthemmung und nicht selten geschieht im Rausch, was nüchtern sodann tief bereut wird. Was uns zu den beiden zentralen Themen des Films bringt: Suff und Gewalt. Meisterlich motivisch verdichtet in jener Miniatur, die dessen Mittelachse bildet, und in der ein Dorfvorsteher sich todesmutig in ein bereits gewaltsam eskaliertes Verlobungs-Gelage begibt. Dann zwingt er den Übeltäter, der seine Verwandtschaft mit blindwütigem Gewehr-Gefuchtel in Angst und Schrecken versetzt, vermittels zahlloser Trinksprüche zum Komasaufen. Schon ist der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben und das Problem gelöst. Den tiefen Seufzer, der sich der Brust des Vorstehers am Ende entringt, den seufzen wir mit: Das, womit diese fernen Leute einander das Leben schwer machen, ist auch uns nur allzu bekannt. Und so gesehen ist die Welt dann doch recht klein.
Apropos Ferne und apropos klein: Ein weiterer Zwerg, der sich um den Riesen Avatar nicht schert und gleichermaßen in die Ferne, diesmal der Vergangenheit schweift, ist Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre. Dafür zeichnet die jüngste Literaturnobelpreisträgerin gemeinsam mit ihrem Sohn David verantwortlich; er dauert eine knappe Stunde, umfasst kaum ein Jahrzehnt, reicht dafür aber tief in die Vergangenheit sowie die mit ihr verknüpften biografischen, soziologischen, politischen Bedeutungsräume. Gemeinsam mit ihrem Mann unternimmt die junge Lehrerin und Mutter in den siebziger und frühen achtziger Jahren unter anderem Reisen ins Chile Salvador Allendes, ins Albanien Enver Hoxhas, ins sowjetische Moskau. Es ist dies die Zeit, in der sie sich als Schriftstellerin findet, ihr schreiberisches Selbstverständnis entwickelt, ihr erstes Buch veröffentlicht. Das spätere Scheitern der Ehe, so die 1940 geborene Ernaux in ihrem von heute aus formulierenden, für sie typisch zwischen Analyse und Beschreibung wechselnden Kommentar, sei unvermeidlich gewesen. Denn die Zeiten waren, wie sie waren, und die Künstlerin, wie zu sehen ist, war gefangen in einem nach traditionellem Muster organisierten Lebensentwurf. Aus dem sie sich dann aber doch befreien konnte – und dies ist nicht die geringste Erkenntnis. Hier geht‘s zum Trailer.