Viele Stunden des Begehrens

Neu im Kino KW 35 (AT)

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Three Thousand Years of Longing, 2022, George Miller

Während Doris Dörrie im „Freibad“ die Toleranz unserer Gesellschaft untersucht (filmfilter-Diagnose: Tendenz sinkend), widmen wir uns den drei anderen Filmstarts der Woche.

Eine Geschichte über das Geschichtenerzählen, mit der famosen Tilda Swinton als Erzählwissenschafterin und dem superben Idris Elba als Flaschengeist, in der Regie des Mad Max-Masterminds George Miller? Das macht neugierig, das will man mit eigenen Augen sehen. Three Thousand Years of Longing geht dann auch recht vielversprechend los. Der Film gibt sich einen Gegenwartsrahmen, in welchem die Narratologin Alithea an einer literarischen Konferenz in Istanbul teilnimmt. Sobald der Geist aus der Flasche ist und Alithea ihre obligatorischen drei Wünsche frei hat, finden wir uns jedoch in einem erzähltechnisch aus der Zeit gefallenen und wie aus tausend und einer Nacht stammenden Filmmärchen – wenngleich der auf Freiheit sinnende Geist seine vergleichsweise wenigen Tage außerhalb der Flasche nicht im arabischen Wunderland, sondern im Reich der Osmanen zugebracht hat und es dementsprechend rustikal hergeht; ein Harem leinwandfüllender Schönheiten oder ein mörderischer Erbfolge-Murks sind nur zwei Beispiele des flapsig „Aladdin for Adults“ getaggten Spektakels.

Doch hier sind die mindestens drei Probleme, die Three Thousand Years of Longing aufwirft: Zum einen wird die ganze Zeit in Voice-over-Worten erzählt, was man ohnehin den Bildern entnehmen könnte (der Film traut also seinen eigenen Bildern zu wenig zu). Zum anderen hat keine der erzählten Unterfabeln das Gewicht, das es für eine Meta-Fabel über das Narrative an sich braucht. Und schließlich gibt es im generell abfallenden letzten Akt eine wohlmeinende, aber derart plumpe Vorschlusswendung, dass es einem noch die politisch korrektest gepflegten Zehennägel aufkringelt. Eine sich rasch zerstäubende Phantasie. (rs)

Emma Thompson nackig!? Da muss man hin, das muss man sehen! Und wo kommt es zum Äußersten? In Sophie Hydes Good Luck to you, Leo Grande / Meine Stunden mit Leo, einem Arthouse-Crowdpleaser wie er im Buche steht, noch dazu mit aufklärerischem Mehrwert! Eierlegende Wollmilchsau sozusagen…

Jetzt aber mal im Ernst; im in Rede stehenden, zweifellos sehr charmanten, aber halt leider auch arg naiven und letztlich viel zu glatten Film spielt Thompson die kürzlich verwitwete Nancy Stokes, die endlich einen Orgasmus erleben will (der Verflossene war keine Granate im Bett) und sich zu diesem Behufe einen Escort-„Boy“ mietet. Nachvollziehbare Sache das und Knüller-Ausgangslage. Natürlich ist Nancy schrecklich (schrecklich!) aufgeregt, aber Leo ist ein echtes Schätzchen – und das Herz geht einem auf und man grinst, bis die Mundwinkel weh tun und der Zuckerpegel einen umzuhauen droht.

Sei’s drum! Dieser Film ist natürlich unbedingt begrüßenswert aus vielerlei Gründen, die Sie sich am besten selbst im Kino anschauen. Nur eins noch: Emma Thompson ist 63 Jahre alt, nicht, wie ihre Filmfigur, 55, und da fragt frau sich dann doch, wieso die Figur nicht so alt sein kann, wie die Frau, die sie darstellt. Zumal es doch um Sex (Orgasmen!) im Alter geht. Ist etwa einer 63-Jährigen der sexuelle Spaß weniger zu gönnen als einer 55-Jährigen? Oder liegt es nicht vielleicht vielmehr daran, dass 63 dann doch gefährlich nahe ans Alterssex-Tabu gerät? Wie gesagt, Leo Grande traut sich viel, vor den letzten Metern aber scheut er. (zax)

Die Kinovorschau dieser Woche endet schwermütig: Eine Verlegerin (Isabelle Huppert in einer schon idealtypischen Isabelle-Huppert-Rolle) begibt sich auf eine Reise in die eigene Vergangenheit, ausgelöst durch die Begegnung mit einer Jugendliebe, die alles melancholisch einfärbt. Die Verlegerin erinnert sich an frühere Liebhaber, Enttäuschungen und Glücksmomente. Laurent Lariviéres À propos de Joan / Die Zeit, die wir teilen ist eine Seelenreise, die sich insgeheim Ingmar Bergmans Wilde Erdbeeren zum Vorbild genommen hat. Zusammengehalten wird die schlaglichtartige Erzählung eines Lebens aber weniger von konzeptueller oder formaler Stringenz als von den Schauspieler:innen, und hier vor allem von Huppert und Lars Eidinger. (mol)

Wer indes kanonisierte Spitzenfilme sehen möchte, besuche das Österreichische Filmmuseum, das in diesen Wochen mit einer Retrospektive zu Ehren seines Ehrenpräsidenten aufwartet. Die „Scorsese Machine“ sei wie Dylan oder Warhol zu einem essenziellen Produkt der US-Kulturgeschichte geworden, analysiert Kurator Christoph Huber. Unser Essay dazu hier. (rs)